Bislang habe ich zumindest die politischen Beiträge dieses Blogs rein analytisch geschrieben, der persönliche Bezug beschränkte sich auf die Offenlegung am Ende jedes Beitrages, von ca. 2002 bis 2009 bei der FDP und seit 2009 bei Bündnis 90/Die Grünen Mitglied gewesen zu sein. Hier wie in der Echtwelt und der Gegenwartspartei kamen hierzu natürlich immer wieder Nachfragen ob der Ungewöhnlichkeit des Weges. Hier nun also die Antwort darauf verbunden mit der Ankündigung, dass sich sowohl die Frequenz als auch die persönliche Note hier demnächst etwas ändern werden.
Das hehre Ideal liberaler Philosophie
Ende 1999 begann ich, die Zeit zu lesen (der erste Artikel war natürlich von der Gräfin) und mich teenagertypisch mit Philosophie zu beschäftigen. Sophies Welt, aus heutiger Perspektive mit hochgezogener Augenbraue bezüglich der grundsätzlichen Personenkonfiguration zu betrachten, war auch dabei. So entdeckte ich zwei Dinge für mich: Die grundsätzliche Sympathie für die Hobbes’sche Idee, freie Entfaltung der menschlichen Person nur durch ein Minimum staatlichen Leviathanismus zu lenken. Und die Zustimmung zur weit verbreiteten Annahme, dass der leicht staubigen Gesellschaft und Wirtschaft der Republik echte liberale Zugluft gut täte.
Zur Erinnerung: Es war die Zeit, in der das Bündnis für Arbeit Schröders wenig zustande brachte, die „Geißel der Massenarbeitslosigkeit“ weiter grassierte und der Economist von einem unsicheren Land in wirtschaftlicher Malaise sprach.
Zudem beschäftigte ich mich familiär bedingt intensiv mit den politischen Zuständen der DDR. Wolf-Biermann-Lieder, Besuche im Stasi-Gefängnis, „Schwarzbuch Kommunismus“. Und als natürliche Antipode des Sozialismus war der Liberalismus für mich die plausibelste politische Heimat.
Zunächst bei den Jungen Liberalen und nach der Bundestagswahl 2002 dann direkt bei der FDP war ich also aktiv – für Website (Contenido!) und Handzettel Texte bauen, Standdienst machen, Anträge zimmern. Die dabei gewonnene Einsicht in das eigentliche Bohren der dicken Bretter finde ich dabei immer noch beeindruckender als alle Flussdiagramme und Politikdimensionierungen, die in der Schule oder Universität vorgenommen werden. Unglaublich schnell ist man bei Einladungen dabei zu Gesprächspartnern auf Ministerialebene, mit dem Landesvorstand, mit Abgeordneten.
Das heißt nicht, dass dereinst alles purer Blau(gelb)beerpfannkuchen war: Abgesehen von der grundsätzlichen Entfremdung mit dem real existierenden Liberalismus war natürlich auch mein Umfeld nicht von Arschgeigen gefeit. Und Karrieristen. Gerne in Personalunion. Die Übergänge von einer sinnvollen strategischen Planung zu einer Discount-House-Of-Cards-Intrige waren fließend, von kleinen Versuchen, Mikrogremien möglichst günstig für sich selbst zu besetzen bis hin zu einem Parteitagsabbruch war alles dabei.
In Einzelfällen kann so etwas desillusionieren, in der Weitwinkelaufnahme wird die Wurst hier aber auch nicht weniger unappetitlich hergestellt als in den meisten anderen Berufen und Organisationen.
Das leere Real liberaler Philosophie
Schwerer für mich wog, dass ich die praktische Ausrichtung der FDP weit von ihrer 1848-Rhetorik entfernt sah. Wann immer es eine Spannung zwischen sozial- und wirtschaftsliberalen Positionen und Prioritäten gab, war der Kurs der Partei ein eindeutiger. Da war das jahrelange jenseits aller Parodierbarkeit aufgesagte Rosenkranz des neuen Steuersystems, das einfach, niedrig und gerecht zu sein habe. Der ewig neu verschlauchte Wein vom Tempo-Wechsel nur mit der FDP, begonnen mit der NRW-Wahl 2000, dem (leider online nicht auffindbaren) Schlappen-gegen-Turnschuhe-Vergleich zur Bundestagswahl 2002 und ewigen „Mut“-Beschwörungen (2005, 2013, 2017).
Selbst eigentliche Erfolge der FDP – etwa der standhafte Widerstand Sabine Leutheusser-Schnarrenbergers gegen die Vorratsdatenspeicherung oder die sinnvolle Zusammenlegung der verschiedenen Entwicklungshilfeorganisationen zur Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit gingen im Getöse zwischen spätrömischer Dekadenz und Koalitionszankerein unter. Von großen Würfen im Steuer- oder Gesundheitssystem oder dem „liberalen Sparbuch“ war nichts zu sehen.
Und: aus der heilen Welt der Bildungseinrichtungen in die Wirtschaft entlassen, musste ich schlichtweg meine bisherigen Annahmen der Realität anpassen. War der zu harte Kündigungsschutz für unbefristete Angestellte wirklich das Problem? Lohnt sich Leistung in diesem Land wirklich zu selten? Brauchen wir wirklich mehr Flexibilisierung und private Vorsorge? Ist es wirklich eine leviathanische Einschränkung für das Kollegium, dass in der Büroküche nicht mehr geraucht werden darf? Sind Studiengebühren tatsächlich eine sinnvolle nachgelagerte Gerechtigkeit – gerade als jemand, der sie sich eben leisten konnte, habe ich da meine Zweifel.
Das heißt keineswegs, dass es nicht jede Menge Baustellen in Gesellschaft und Wirtschaft gibt, wo klassische liberale Werkzeuge sinnvoll einsetzbar wären, weil der Wunsch nach Einzelfallgerechtigkeit komplexe Bürokratie erschaffen hat. Weil die Mehrwertsteuer wirklich komödiantisches Potenzial hat. Weil die Zulassung privaten Busverkehrs überfällig war.
Aber ich sehe hier nicht das große Problem der Post-Agenda-2010-Gesellschaft. In keinem der fünf Unternehmen, in denen ich gearbeitet habe, hat ein Betriebsrat alle Räder still stehen lassen. Die Auswirkungen absurder Subunternehmens- und Scheinselbstständigkeitsstrukturen werden deutlich bei besagtem Busverkehr, bei Lieferdiensten und nahezu jeder Dienstleistung am Flughafen. Bereits beim Arbeitslosengeld I ist die/der Arbeitslose in einer nachteiligen Bittstellersituation, für die niemand beim Check24-Versicherungsvergleich eine Police abschließen würde, vom ALG-2-Eiertanz ganz zu schweigen.
Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll aber deutlich machen, dass mein Wechsel zu Bündnis 90/Die Grünen die Folge einer langjährigen persönlichen Entwicklung war. Und da habe ich von Umweltpolitik noch gar nicht gesprochen!
Die heterogene politische Heimat und der Wunsch nach Schnittmengenumsetzungen
Tatsächlich nahm ich die Grünen bereits vor zehn, zwölf Jahren als liberale Partei war. Schließlich verträgt das Adjektiv viele Bindestrichpräfixe. Noch aus den Zeiten von dol2day erinnere ich mich an Diskussionen über das wesentliche Distinktionsmerkmal von Linksliberalen: die elementare Verknüpfung von individueller Verantwortung und einer sinnvoll emanzipationsfreundlichen Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die weder Kollektivierungsfantasien hat noch die Existenz von systematischen Privilegien leugnet.
Mit einem Sternchen in iTunes-AGB-Länge habe ich bei den Grünen eine sinnvolle Balance gefunden. Ich finde die Grünen konsequent in den Prinzipien ihrer Kernmarke und pragmatisch in den übrigen Politikfeldern. Auch hier gelten eiserne Gesetze der politischen Prozesse – zehn Prozent Irre in jeder Partei sind normal -, auch hier gibt es Menschen auf der ganzen Skala der Sympathiebewertungen. Auch hier bin ich nicht mit allem einverstanden, etwa bei Biotechnologie oder auch nur beim Gespür für das öffentliche Befinden.
Sowohl FDP als auch Grüne sind mehrheitlich geprägt von einem Optimismus in die menschliche Persönlichkeit. Der „Mut“ der FDP-Plakate (und dieses Jahr auch der Grünen) mag wenig originell sein, doch im Kern unterscheidet er Liberale eben von den übrigen Parteien. Genau aus diesem Grund halte ich Ampel- und Jamaika-Koalitionen für die beste Verknüpfung in der heterogenen Gesellschaft mit sechs-Parteien-Parlamenten in Reihe.
Die Differenzen der Parteien scheinen auf den ersten Blick enorm, sei es bei den Themen Landwirtschaft, Sozialpolitik, Verkehr, Bildung oder Migration. Ein Schritt zurück jedoch gibt beiden Parteien die Möglichkeit, sich jeweils auf die grundlegenden Prinzipien zu besinnen: Das Bürgergeld der FDP etwa ist natürlich kein bedingungsloses Grundeinkommen, aber es lässt sich grundsätzlich sinnvoll etwa mit dem grünen Familienbudget verknüpfen. Eine sinnvolle Kennzeichnung der Herkunft von landwirtschaftlichen Produkten ist im Interesse einer Partei für mündige Verbraucher*innen. Gerade eine FDP kann kein Interesse daran haben, die Zukunftstechnologie E-Mobilität nicht voranzubringen.
Hillary Rodham Clinton warb für eine Gesellschaft, die gemeinsam stärker („Stronger together“) ist. Und ich glaube, genau diese ist möglich, wenn die beiden progressiven Bewegungen des Landes zusammenarbeiten.