In der historischen Betrachtung der Weimarer Republik wird diese Oft in drei Phasen eingeteilt:
- Ein stürmischer Beginn mit sechsstelligen Demonstrationsteilnehmern außerhalb der Nationalversammlung, mehreren Putschversuchen und massiven Herausforderungen durch Reparationsfrage, Ruhrbesetzung, der Verlust weiterer Reichsgebiete und Hyperinflation,
- einer vergleichsweise stabilen mittleren Periode
- sowie schließlich den letzten Jahren mit Präsidialkabinetten, der Wiederwahl einstiger Putschisten und schließlich deren Anzünden der Welt.
Der Reichstagswahl am 7. Dezember 1924 kommt dabei die Rolle zu, jene Stabilisierungsphase einzuleiten. Nach zuletzt starken Zugewinnen für die Republikfeinde des politischen Spektrums ergab sich hier zumindest ein wenig Mäßigung. Die großen politischen Probleme – Währung und Reparationsfrage – schienen vorerst erledigt, auch wenn diese Gewinne als Pyrrhussiege herausstellen sollten. Die Nationalsozialisten waren weiter offiziell verboten und inoffiziell schlecht organisiert, die rechtskonservative DNVP schlug für ihre Verhältnisse gemäßigte Töne an. Im Wahlergebnis schlug sich das folgendermaßen nieder:
Tatsächlich tritt somit erstmals die Situation auf, dass ein quorenbasiertes Wahlsystem eine andere Mehrheit ermöglicht hätte, nämlich die klassische Weimarer Koalition mit SPD, Zentrum und DDP („Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“), aber ohne die konservativer gewordene BVP. So blieben wie so oft nur die Optionen einer Großen Koalition von SPD bis DVP oder eines Bürgerblocks von DDP (oder Zentrum) bis hinein zur DNVP. In den knapp vier Jahren bis zur nächsten Reichstagswahl wurden insgesamt vier Kabinette unter zwei den Reichskanzlern Hans Luther und Wilhelm Marx in ziemlich genauer dieser Zusammensetzung gebildet.
Vier Kabinette und Ihr Scheitern
Ob eine Mehrheit der Weimarer Koalition die Verhältnisse die Verhältnisse stabilisiert hätte, bleibt Spekulation; aber es lohnt dennoch, sich die Gründe für das Scheitern der einzelnen Kabinette anzusehen:
- Für die Locarno-Verträge sollten Außenminister und Ex-Reichskanzler Gustav Stresemann zusammen mit seinem französischen Kollegen Aristide Briand später den Nobelpreis erhalten. Die Veträge beinhalteten die Aufnahme des Deutschen Reiches in den Völkerbund, setzten die Westgrenzen des Reiches fest (ließen im Osten jedoch Spielraum) und verbesserten die politische wie wirtschaftliche Westanbindung des Landes erheblich. Der DNVP ging insbesondere die Anerkennung der Westgrenzen jedoch zu weit, sie zog sich aus der Regierung zurück, das erste Kabinett Luther zerbrach. Ratifiziert wurde der Vertrag schließlich auch mit den Stimmen der SPD, also einer Großen Koalition.
- Luther II fand seinen neuralgischen Punkt in einer Grundfrage der Weimarer Republik: Der Beflaggung. Bereits in der Nationalversammlung 1919 war emotional über schwarz-rot-gold oder schwarz-weiß-rot diskutiert, wobei konservative und monarchistische Kräfte letzteres stark bevorzugten. Als Kompromiss war damals eine Handelsflagge mit schwarz-weiß-rot mit schwarz-rot-goldener Ecke beschlossen worden. Eine vom konservativen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg angestoßene Flaggenverordnung sollte diesen Dualismus beseitigen, aufgrund einer Kette ungünstiger Reaktionen über Ihr Inkrafttreten, Nichtberücksichtigtwerden oder Garnichtinkrafttreten hatte der Reichskanzler aber schließlich beide Lager gegen sich aufgebracht und überstand das folgende Misstrauensvotum nicht.
- Das dritte Kabinett von Wilhelm Marx wurde durch ein von der SPD eingereichtes Misstrauensvotum gestürzt, nachdem der SPD-Abgeordnete (und Republik-Proklamateur) Philipp Scheidemann eine geheime Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und der Roten Armee enthüllt hatte.
- Dem vierten und letzten Marx-Kabinett gehörte die DNVP wieder an, und diesmal sollte es an einer anderen Partei scheitern: das katholische Zentrum hatte in einem Entwurf für ein neues Schulgesetz die Gleichstellung konfessioneller und konfessionsübergreifender Schulen gefordert – letztere besaßen noch den Vorrang. BVP und DNVP waren mit der Änderung einverstanden, die DVP besann sich ihrer liberalen Wurzeln und opponierte. Ohne Kompromiss in Sicht wurde die Koalition schließlich aufgelöst und durch Reichspräsident Hindenburg Neuwahlen angesetzt.
Fazit
Die stabile Periode von 1924 bis 1928 bestätigt und widerlegt die Arbeitshypothese dieser Serie gleichermaßen. Es scheint zum Einen naheliegend, dass eine Weimarer Koalition sicherlich nicht an Aspekten zerbrochen wäre, über die sie ja weitestgehend einig waren, wie eben die Beflaggung oder Außenpolitik. Was genau eine amtierende SPD-Regierung mit Scheidemanns Enthüllung gemacht hätte, ist pure Spekulation, aber ein Rücktritt mit Kabinettsumbildung wäre plausibel. Die Schulfrage hingegen hätte wohl jede Koalition mit Zentrum und einer liberalen Partei gesprengt.
Gleichzeit ist das pure Abhaken von Regierungsrücktritten aber keine völlig einwandfreie Methode, sich der Problematik zu nähern. Die Weimarer Verfassung machte es deutlich einfacher, Regierungen neu zu bilden, so dass die Dramatik einer solchen Maßnahme nicht die gleiche Dimension hat wie es heute der Fall wäre. Fürderhin ist zu beachten, dass für die eigentliche Stabilität der Republik als Staatsform auf strategischer Ebene die Wechselgeschwindigkeit der Reichskanzler eine geringe Rolle spielte, im Vergleich zu den grundlegenden Aspekten wie Arbeitslosigkeit und Lohnentwicklung. Anderenfalls wäre die Wahl 1928, die in der nächsten Folge besprochen wird, deutlich anders ausgegangen.
Eine Fünfprozenthürde hätte in der Blütezeit der Weimarer Republik also die Weimarer Koalition statt wechselnder Bürgerblock-Kabinette an die Regierung geführt, die womöglich weniger Sollbruchstellen gehabt hätten. Dass dies die Republik insgesamt befördert hätte, bleibt aber unwahrscheinlich.