Die vorherige Ausgabe dieser Untersuchung beschäftigte sich mit der Wahl im Dezember 1924, die sich leicht als ruhiger Moment in stürmischen Zeiten, als Wegmarke der besseren Epoche der Weimarer Republik bezeichnen lässt. Dieser Narration folgend, ist die Wahl 1928, wenn nicht der Anfang von Ende, so doch zumindest der letzte unzweideutig stabile Moment der ersten deutschen Demokratie.
Seit 1924 war einiges passiert – eine bürgerliche Regierung hatte, zuweilen mit Unterstützung der opponierenden SPD – die außen- und wirtschaftspolitische Lage des Landes vorübergehend konsolidiert. 1925 war der Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg aus dem wohlverdienten Ruhestand ins Reichspräsidentenamt gewählt worden. Wesentlichen Anteil bei der knappen Wahl hatte auch die Unterstützung der Bayerischen Volkspartei, einstige Schwester des Zentrums, für den Ex-General und gegen den Zentrumspolitiker Marx. Auch wenn die Regierungen im Jahrestakt wechselten, war es bis 1928 zumindest immer möglich, mit den bestehenden Mehrheiten neue Koalitionen zu arrangieren, trotz der Tatsache, dass das Parlament schon viele Splittergruppen beheimatete und mit einer Quorenregelungen etwa eine klassische Weimarer Koalition möglich gewesen wäre.
Für die in dieser Serie zu untersuchende Hypothese, dass eine Fünfprozenthürde die Demokratie insgesamt stabilisiert hätte, wäre jetzt zu untersuchen, inwieweit 1928 aus Republiksicht eine schlechtere Lage auftrat, also etwa ein erhöhter Stimmanteil republikfeindlicher Parteien oder eine noch schwierigere Koalitionsbildung. Wie das Schaubild zeigt, ist der erste Teil unstrittig nicht eingetreten, der zweite nur auf den ersten Blick.
Ja, mit einer Fünfprozenthürde (der auch die DDP zum Opfer gefallen wäre) sähe das Parlament deutlich übersichtlicher aus und es wären Koalitionen aus zwei Parteien möglich gewesen. Ob das tatsächlich eingetreten wäre oder ob das Zentrum ähnlich der DDP 1919 eine zu dominante SPD gefürchtet und darum zusätzlichen DVP-Beistand eingefordert hätte, bleibt natürlich Spekulation.
Die Regierungsbildung – Politik statt Arithmetik
Aber auch so ist das nachfolgende Trauerspiel von Regierungsbildung und -zerfall eben nicht einfach durch ungeschickte Mehrheitsverhältnisse zu erklären. Zum einen, weil eine Koalition aus SPD, Zentrum und DDP nur wenige Stimmen gebraucht hätte für eine Regierung – die Vossische Zeitung spekulierte kurz über die Deutsche Bayernpartei, auch die BVP oder die Wirtschaftspartei (mit 4,5% nur knapp hinter DDP) wären grundsätzlich mögliche Kandidaten gewesen, um die Hälfte im Trotendiagramm zu erreichen.
Dass es dazu nicht kam, lag an der allgemeinen Einschätzung, dass das Reich in der Außenpolitk auf Strese-Man Stresemann und damit auf die DVP angewiesen war: „Vielmehr hängt alles davon ab, ob es gelingt, die Sozialdemokraten und die Deutsche Volkspartei unter einen Hut zu bringen. Eine Regierung ohne Stresemann wäre ebensowenig von Dauer wie eine Regierung ohne Braun oder Severing.“ (Vossische Zeitung, auch Dank an die Bestätigung via Twitter).
Angesichts der enormen Reputation des einstigen Kanzlers und Daueraußenministers eine plausible Argumentation, aber eben auch eine, die innenpolitischen Zwist vorprogrammierte. Die DVP war wirtschaftspolitisch weitgehend eine Partei der Industrie, die SPD hatte nach ihrer letzten Regierungsbeteiliung 1923 lange intern darüber gestritten, inwieweit ihrer eigentlichen Mission als Arbeiter- und Klassenkampfpartei Koalitionen mit den Liberalen und Konservativen zuträglich sind.
Das letzte Kabinett Müller hielt schließlich zwei Jahre und damit tatsächlich am längsten innerhalb der Weimarer Republik, allerdings mit einem weitaus größeren Knall am Ende. Vordergründig zerbrach die Koalition schließlich an einem Streit um die Arbeitslosenversicherung, aber faktisch war die Zusammenarbeit von Anfang auf Felge gefahren – ob Panzerkreuzerbau , Lösung der Reparationsfrage mit dem Young-Plan oder Ruhreisenstreit. Zudem verstarb Stresemann, ohne den die DVP einen deutlich geringen Beitrag zur Koalition leistete und weiter die Differenzen hervorhob. Auch im Zentrum zeichnete sich ein Ruck weg von der gemäßigten Mitte-Politik der vergangenen Jahre ab.
Das Scheitern – systembedingte Instabilität
Nach dem Young-Plan – ein reichsweites Referenderum dagegen war zwar erfolglos, mobilsiierte jedoch das rechte politische Spektrum langfristig – zerbrach die Koalition schließlich vordergründig an einer Uneinigkeit über die Arbeitslosenversicherung. Es ist gut möglich, dass hier aus sozialdemokratischer Sicht ein ähnliches Kernthema betroffen war wie im Schulstreit für die Zentrumspartei die Stellung konfessioneller Schulen. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass sich die von Anfang eher auf persönliche Zusammenarbeit als auf parlamentarische Mehrheiten (die SPD-Abgeordneten stimmten etwa beim Panzerkreuzerbau gegen das Vorhaben des Kabinetts) stützende Regierung einfach erschöpft hatte.
Und: Hindenburg machte an dieser Stelle explizit nicht von der Möglichkeit Gebrauch, den Artikel 48 (Notverordnungen ohne erforderliche parlamentarische Zustimmung) zu bemühen, obwohl dieser für die kommende Jahre auf dem 1930er-Äquivalent einer Tastenkombination zu legen schien. Drei Tage später ernannte er eine Regierung, in der die SPD durch Freunde des Reichspräsidenten und Deutschnationale ersetzt wurden.
Ab der nächsten Reichstagswahl werden die Diagramme deutlich brauner und die Endphase der Republik beginnt. Hätte ein Wahlsystem an den Rahmenbedingungen davon etwas ändern können? Das halte ich für wenig belegbar:
- Grundsätzlich wären andere Mehrheiten als die Große Koalition von vornherein rechnerisch möglich gewesen, sie waren aber politisch nicht gewünscht.
- Das nachfolgende Stützen von Regierungen ohne Reichstagsmehrheit mit den Präsidialkabinetten war ein vom Wahlsystem unabhängiger Mechanismus der Weimarer Verfassung, der zusätzliche Regierungsmacht in die Hände des Präsidenten legt.
- Trotz insgesamt instabiler Verhältnisse hatte die NSDAP (vorher organisiert im NSFB) über Jahre hinweg den Status einer Splittergruppe behalten, ihr Aufstieg in den kommenden zwei Jahren kam nicht aus einer langsam wachsenden Reichstagsfraktion.
- Der Reichspräsident hatte das Mittel der Notverordnung, auf dem die nachfolgenden Kabinette primär basieren sollten – es aber der SPD-geführten Regierung nicht angeboten, da er hoffte, die Sozialdemokraten aus der Regierung zu drängen.
- Und natürlich: die einsetzende Weltwirtschaftskrise führte zwischen 1928 und 1930 zu einer Verdopplung(!) der reichsweiten Arbeitslosenzahl, nachdem diese in den Jahren zuvor stabil bis rückläufig war.
Die Verfassung der Weimarer Republik hat mit der schwachen und instabilen Rolle des Parlamentes einen Anteil an den Mechanismen, die zu ihrem Untergang führten. Im Verhältnis zur grundsätzlichen Fehlkonstruktion eines semididaktorischen Reichspräsidenten und selbstverständlich den massiven äußeren Einflüssen (sowie, siehe Stresemanns Tod, schieren Unglücken) tritt das jedoch deutlich in den Hintergrund.