Ziemlich genau zur Bundestagswahl 1998 begann ich, ein starkes politisches Interesse zu entwickeln. Naheliegenderweise haben sich viele meiner Positionen innerhalb des Mehr-als-Vierteljahrhunderts seither verändert, teilweise aufgrund persönlicher Erfahrungen, teilweise aufgrund allgemeiner Entwicklungen und Überlegungen.
Das Argument, dass ein Mindestlohn per se womöglich nicht marktgerechte Preise für ein Angebot (also Arbeit) erzwingt und damit abstrakt eine Marktverzerrung und konkret eine Bedrohung für bestimmte Arbeiten darstellt, überzeugt mich zum Beispiel nicht mehr. Respektive es mag zwar formal immer noch zutreffen, jedoch überwiegt für mich inzwischen die Maßgabe, dass in einem Wirtschaftssystem Arbeit zu einem ordentlichen Auskommen zu reichen hat. Analoge hitzige Diskussionen mit dem Vergangenheits-Ich gäbe es sicherlich zu Themen wie der Bundeswehr-Relevanz, Grundeinkommen1 oder Kündigungsschutz.
Demgegenüber stehen einige Positionen quasi unverrückt seit fast 30 Jahren in meinem Kopf herum. Eine sehr weitreichende Liberalisierung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch gehört dazu, oder, ganz banal, ein Wunsch nach mehr Unterstützung für die Schiene in diesem Land. Und eine tief verwurzelte Skepsis in Bezug auf Sahra Wagenknecht.
Diese kommt nicht aus einem ungünstigen Moment bei irgendeiner 90er-Talkshow, sondern aus einem Sonderheft des Stern dereinst zum zehnjährigen Mauerfall-Jubiläum. 1999 also bat das Blatt diverse Personen der Zeitgeschichte um ihre Erinnerungen an 9. November 1989, Wagenknecht gab einen Text ab. Urheberrechtlich begründet werde ich den nicht vollkommen zitieren, aber einige für mich wesentliche Passagen benennen, die für mich die Gefährlichkeit dieser Person illustrieren.

In der Nacht des 9. November 1989 war mir überhaupt nicht zum Feiern zumute. Sicher, Reisefreiheit ist eine schöne Sache. Aber beim »Mauerfall« ging es ja nicht in erster Linie ums Reisen. Es ging darum, ob es die DDR weiterhin geben wird.
Wo fangen wir da an? Die schon fast in Troll-Qualität platzierten Guillemets? Für mich damit, dass Reisefreiheit hier impliziert als Freizeit-Bonus dargestellt wird, als ob die Leute am 9. November einfach nur Porto/Bordeaux (Hauptsache Italien!) cruisen wollten und ein Großteil der „Reiseeinschränkungen“ seit 1961 intimste Familienverhältnisse betrafen. Es sei auch daran erinnert, und das war der Autorin sicherlich bekannt, dass die Montagsdemonstrationen dereinst mit manipulierten Wahlergebnissen begannen und nicht mit der schlechten Verfügbarkeit von Pauschalreisen.
Zwar hatte auch ich an den damaligen DDR-Verhältnissen einiges auszusetzen.
Das ist für eine Person, die nicht studieren durfte, weil sie während der schulischen Wehrkunde nichts essen konnte, eine erstaunlich mildtätige Wortwahl. Ich habe einiges am WarCraft-Remake auszusetzen und an der EU-Verpackungsverordnung. Aber einen Staat, der mir aus grundsätzlichsten Erwägungen heraus ein Grundrecht verweigert – da traue ich Frau Wagenknecht zu, etwas harschere Worte im Köcher zu haben.
Das Problem ist nicht, dass ich Sahra Wagenknecht nicht abnehme, dass sie gerne ein bessere DDR gewollt hätte, so wie sucht eifrigst in den Notizen ganz vielleicht unter Salvador Allende. Das Problem ist, dass sie elementare Eigenschaften des Staates herunterspielt, sowohl in ihren Auswirkungen auf tatsächliche Menschen (wie sie selbst!) als auch in ihrer grundsätzlichen strukturellen Verwobenheit mit dem Staat.
Es folgt eine Passage über den Wunsch nach einer „nicht-kapitalistischen Gesellschaft“ und der Wunsch, dass die Neuen Bundesländer nicht von den Wirtschaftsbossen u.a. der Deutschen Bank abgegriffen werden sollte. Das ist rhetorisch clever – denn damals wie heute herschte zurecht zwischen Suhl und Binz der Eindruck, die Wende war in erster Linie ein Ausverkauf des Landes. Zwei Jahre zuvor hatte der damalige Deutsche-Bank-Chef eine Millionen-Strafe als Peanuts abgetan.
Wagenknecht bringt hier einen ganzen Blumenstrauß rhetorisch unsauberer Mittel in die Arena, um über die Dinge zu sprechen, die sie kritisieren möchte. Ihr Whataboutism, ihr Lächerlichmachen von gegnerischen Positionen wider besseren Wissens, all das hat sich nicht geändert. Ob sie den Menschen am Grenzübergang Bornholmer Straße Reiselust unterstellt oder Ukraine-Verbündeten, in Putin schlichtweg eine politisch missliebige Regierung zu sehen.
Die Hoffnung auf eine andere Lösung hat der 9. November zerstört. Deshalb saß ich damals ziemlich wütend und zugleich sehr traurig in meiner Wohnung und las Kants »Kritik der reinen Vernunft«.
Interessanter Flex. Es gebietet sich sicherlich, entsprechend mit einem Goethe-Zitat zu antworten, ein bisschen Bildungsanspruch braucht dieser Blog ja ab und zu:
Und dein nicht zu achten. Wie ich.