2006 veröffentlichte der Politikwissenschaftler Frank Walter Das Buch „Träume von Jamaika“, eine Essay-Sammlung zu den Erfordernissen neuer Bündnisse. Bereits im Vorjahr hatte sich die Beinahe-doch-wieder-Kanzlerpartei bemüht, eine Ampel herbeizudiskutieren. Die FDP jedoch sagte, man werde nicht einmal den Hörer abnehmen – nachdem drei Jahre zuvor noch Äquidistanz die Kampagnenvokabel war. 2017 hieß es wiederum „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ und so dauerte es bis ins dritte Jahrzehnt, bis auf Bundesebene eine Koalition aus FDP und Bündnis 90/Die Grünen stattfinden konnte. Einem Bündnis, das ich für per se viel natürlicher fand als die Meisten und mit dem sich einiges an Hoffnung verbinden ließ.
Und wir alle wissen ja, was zuletzt mit der Hoffnung passiert.
Spätestens seit dem offiziellen Aus, aber plausibel seit der Absehbarkeit der grundsätzlichen Grün-Gelb-Roten Malaise habe ich überlegt, wieso diese Koalition noch einmal deutlich rumpeliger über die Bühne stolperte. Und „die FDP ist doof“ wollte ich dabei als Begründung nicht akzeptieren.
Es waren ja auch schwierige Jahre. Noch ein gutes Stück Pandemie aber mit sichtlich genervterer Bevölkerung. Der Angriffskrieg in der Ukraine und die damit einhergehende Zeitenwende. Das vor dem Hintergrund einer Schuldenbremse und eines gigantischen Investitionsrückstaus (nicht nur in der Bundeswehr) – beides sind grundsätzliche strukturelle Fehltaten der vorvergangenen sechzehn Jahre, die auch der Sozialdemokratie unverdächtige Medien gerne bekritteln.
Also eine reine Schönwetterkoalition? Wäre die Ampel ruhig gelaufen in ruhigeren Zeiten? Zum einen – vier wirklich ruhige Jahre zu finden (Finanzkrise! Fukushima! Syrien! Corona!) dürfte schwierig sein. Gleichwohl waren die letzten Jahre argumentierbar ein besonders herausforderndes Gebiet, das vielleicht jede Koalition außer einer Adenauer’schen Alleinregierung sehr auf ihre Resilienz geprüft hätte. Hier lässt sich meines Erachtens wenn nicht Milde, so doch Kontextualisierung einsetzen.
Und: War die Ampel wirklich so schlecht? Das Selbstbestimmungsgesetz, die Cannabis-Freigabe, das Bürgergeld als immerhin teilweise Abkehr von der misstrauensbasierten Sozialpolitik der letzten zwanzig Jahre. Eine deutliche Erhöhung des Verteidigungsbudgets, 2% NATO-Ziel, pacta sunt servanda, wissenschon. Viele Kleinigkeiten findet der Koalitionstracker. Mir scheint die Schlussfolgerung fair, dass hier sicherlich keine Pauken-und-Trompeten-Erfolgskoalition agierte, aber insbesondere in den ersten zwei Jahren durchaus Talarenmuff der letzten Jahrzehnte beseitigt wurde, wie es nur eine Fortschrittskoalition könnte.
Demgegenüber stehen natürlich Pausbacken- und Kopf-hin-und-her-Nicken-Momente. Im Verkehrsbereich gibt es immerhin die Generalsanierung der Bahn, eine CO2-Maut für LKW und ein Um-die-fünfzig-Euro-Ticket. Tempolimit oder eine Emissionseinhaltung? Da steht die Ampel, einmal darf ich in diesem Artikel, auf rot. Bündnis 90/Die Grünen sind mit dem Familiengeld weit hinter den eigenen Erwartungen zurückgeblieben. Ernsthafte Weiterentwicklung der betrieblichen Mitbestimmung blieb ebenso auf der Strecke wie die Gemeinnützigkeit des e-Sport.
Und schließlich: Der Wirtschaftsstandort. Ein Aspekt, den ich an einer Koalition mit „Gelb“-Suffix reizend finde, ist tatsächlich eine moderate Wirtschaftsfreundlichkeit. Und gerade da hat die Regierung nicht geliefert. Bürokratie-Anekdoten sind immer billig – aber vielleicht sollten sie’s nicht sein. Auch nächste Woche wird über LinkedIn ein Beitrag zu absurden notariellen Beglaubigungspflichten flattern, für die es im Jahr 2005 2015 2025 keinen guten Grund gibt, auch das Bürokratieentlastungsgesetz stellte einen eher kleinen Wurf dar.
Meine Ehepartnerin unterhält ein Keramik-Studio in Berlin mit Töpferkursen, vertreibt ihre eigene Keramik-Kunst sowie Kits zum Selber Töpfern zu Hause. Diese per se tragfähigen Konzepte allerdings werden im Alltag von einem gerade für Einzelakteure und Kleinunternehmen kaum handhabbaren Dickicht konfrontiert. Zwangsmitgliedschaft in Handwerks- und/oder Handelskammer. GEMA (hier können sicherlich alle Schönheitssalons ein Lied singen, gebührenpflichtig natürlich). Die absurd hohen Krankenkassenkosten gerade für Solo-Selbstständige. Nationale Insellösungen für den Versand innerhalb der EU (Beispiel Österreich). Die gut gemeinte EU-Produktsicherheitsverordnung1.
All das ist kein Einzelfall – zahlreiche „eigentlich müsste das locker reichen“-Solo-Selbstständige und Klein(st)unternehmen ächzen unter einer institutionellen Vernachlässigung. An jeder Ecke wäre das Potenzial für kleine Verbesserungen, die das Leben ein bisschen einfacher machen und ein bisschen mehr Zeit und Geld belassen, die mithin die Effizienz der Volkswirtschaft erhöhen würden. Nicht ohne Reibereien, wenn es etwa um Recycling-Fragen geht. Aber insgesamt hat mir der Impuls im Sinne einer modernen Wirtschaftspolitik komplett gefehlt. Das kurz vor der Neuwahl jetzt aus der Mottenkiste „Keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall“ (Original, Remake) und „Feiertage auf den Sonntag“ (Original, Remake) geholt wird, passt da nur.
Zudem symptomatisch in Inhalt und Umgang: Das Heizungsgesetz.
Liegt das samt und sonders an der FDP? Nein, sicherlich nicht, gerade wenn das Bundeswirtschaftsministerium und das Kanzleramt bei den Koalitionspartnern untergekommen sind. Dennoch ist das Unvermögen der „Liberalen“, moderne Wirtschaftspolitik und deutliche Akzente durchzusetzen, für mich ein Treiber der Enttäuschung über diese Koalition. Die Idee, das in einem Spannungsfeld progressive Politik auf allen Ebenen durchgeführt werden kann, war vermutlich schon 2005 naiv, als der FDP-Vorsitzende noch Westerwelle hieß. Die letzten drei Jahre haben gezeigt, dass mit dieser Partei kein sinnvoller Staat zu machen ist. Von dem schlichtweg unwürdigen und eines entwickelten Bürgerbegriffs widerstrebendem Verhalten beim Koalitionsbruch ganz zu schweigen.
Nach 1999 und 2013 steht die Partei erneut am Abgrund. Mit Recht. Und ich sehe nicht, wie sie diesmal zurückkommen kann.
Anmerkung wie immer bei politischen Beiträgen: Ich war von c. 2002 bis 2009 Mitglied der FDP und bin seit 2009 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Bei der kommenden Bundestagswahl strebe ich kein Amt oder Mandat an.