Mit einiger Verwunderung habe ich festgestellt, dass ich tatsächlich noch nie einen dedizierten Beitrag für die Wahlen zum Europa-Parlament gemacht hatte, sondern sie höchstens en passant erwähnte. Damit ist jetzt Schluss, und nicht allein, weil ich Prokrastinationsgründe fürs Studium brauche.
Ja, so rein prozedural liegt hier schon ein anderer Sachverhalt vor, weil ja nur ein Teil des gesamten Parlaments in der Bundesrepublik gewählt wird und die gesamten Koalitionsbildungen auf einer größeren Bühne stattfinden. Ganz knappes „Oh, wenn jetzt dieser eine Wahlkreise noch an die FDP geht, könnte es eng werden mit der Mehrheit für die Ministerpräsidentin“-Kommentieren entfällt also.
Dennoch ist auch das Betrachten der deutschen Sitzverteilungstorte relevant – als größte Delegation des Parlaments, und, hier bitte einen Zehner ins Phrasenschwein, als „Stimmungstest“ für die Lage der Nation. Für die Ampel, für die späteren Landtagswahlen in den Neuen Bundesländern. Und die immer fleißigen Leute von wahlrecht.de haben auch eine Umfragenübersicht.
Historische Entwicklung
Aber zunächst: Wie haben sich denn die EU-Wahlergebnisse seit der Wiedervereinigung entwickelt? Hier das Diagramm, Rohdaten wie immer auf meinem OneDrive.
Auffallend: Die SPD ist noch nie auch nur fünf Punkt an die heran gekommen in den letzten dreißig Jahren. Das 1999er-Ergebnis bedeutete sogar eine absolute Mehrheit der Delegationssitze für die Union und das beste gesamtdeutsche Ergebnis für CDU/CSU überhaupt. Zur Erinnerung: Miserabler Start der rot-grünen Regierung und noch keine Spendenaffäre. Seither geht es für beide Volksparteien im wesentlichen südwärts. Das 2019er Ergebnis war das erste Mal, dass die Grünen bundesweit vor der SPD landeten. Der Wegfall der Fünfprozenthürde zur Wahl 2014 (das Bundesverfassungsgericht hatte für die Alternative „Drei Prozent“ wenig Zuneigung übrig) führte dazu, dass wir seither auch jede Menge Ein- oder Zwei-Personen-Delegationen haben.
Die aktuelle Umfragen-Situation
Noch vor einigen Wochen sah es so aus, als ob sicher zur zweitstärksten Kraft werden würde – und völlig ausschließen lässt sich das auch immer nicht. Aber insgesamt haben die Entwicklungen der jüngsten Zeit dazu beigetragen, dass sowohl SPD, Bündnis 90/Die Grünen als auch die AfD eine Chance haben. Wenige Prozentpunkte können somit die Wahrnehmung des Ergebnisses erheblich beeinflussen. Auch die Platzierung von BSW, FDP und Linke dürfte die Diskussionen im jeweiligen Lager für den Rest des Jahres prägen.
Übrigens: Für Detail-Analysen hat Dr. Nicolas Scharioth, mit dem ich letzten Januar ein Projekt zu möglichen Wahlkreis-Anpassungen erarbeitet hatte, eine spannende Seite gebaut. Unter poll.graphics finden sich aktuelle Projektionen inklusive detaillierter Tools für Partei- oder Zugewinnvergleiche.
Offenlegung: Ich war von c. 2002 bis 2009 Mitglied der FDP und bin seit 2009 Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen. Ich strebe auch bei dieser Wahl kein Amt oder Mandat an. Am 9. Juni werde ich wie so oft Beisitzer in einem Wahlvorstand sein.