Die teilweise Wiederholung der Bundestagswahl 2021(!) in Berlin am letzten Sonntag, weniger als 20 Monate vor dem nächsten Urnengang, hat keine großen Überraschungen hervorgebracht. Angesichts des herausfordernden Umfeldes (siehe auch mein Beitrag zur Halbzeit-Umfragenlage der Ampel) waren die großen Zugewinne für CDU und AfD ebenso wie die enormen Verluste für SPD und FDP erwartbar, die konstant gebliebene Zustimmung für die inzwischen zerfallene Linke am ehesten ein Erhöhen der Augenbrauen wert.
Ob die vom Bundesverfassungsgericht so vorgesehene Teilwiederholung praktisch sinnvoll war, wurde im Vorfeld vielfach diskutiert, gerade aufgrund der enormen Verzögerung. Weil das Prüfverfahren zuerst ein Jahr im Bundestag anlief – ein Organ, das über eine seine eigene Wahl richten soll? -, ist die Welt vom letzten Sonntag eine gänzlich, gänzlich andere als jene vom 26. September 2021. Der ursprüngliche Sinn von derartigen Praktiken, dass Heilen von Mängeln im Wahlvorgang, war damit praktisch kaum noch herzustellen. (Siehe auch noch einmal die längeren Einfassungen bei wahlrecht.de zu den zahlreichen kleinen und großen Problemen der tatsächlichen Durchführung.)
Ein weitere Wunde, die durch die Wiederholung erst entstanden ist: Durch die niedrigere Wahlbeteiligung verliert Berlin insgesamt vier Abgeordnetensitze im Bundestag, drei verschieben sich zwischen den Landesverbänden von SPD, CDU und Bündnis 90/Die Grünen, der Berliner FDP-Generalsekretär Lars Lindemann verlässt das Haus ganz ohne Nachfolge.
Derartige Eigenheiten sind in der Geschichte der Bundestagswahlen nicht völlig ohne Exempel, aber in dieser Dimension neu: 2005, 1961 und 1965 gab es jeweils in einem Bundestagswahlkreis Nachwahlen zwei Wochen später, weil einzelne Direktkandidaten verstorben waren. Im Ergebnis ergaben sich ebenfalls Verschiebungen zwischen den Landesverbänden der Parteien, damals zugunsten der Nachwahl-Kreise, weil die entsprechenden Wahlberechtigten eben informiert und taktisch wählen konnten.
Am 12. Februar 2024 war die Situation komplett anders: Es war von vornherein klar, dass selbst mit hypothetischen Realsozialismus-Ergebnissen in jedwede Richtung keine Regierungsmehrheit kippen könnte und auch der Ohnehin-nicht-mehr-Fraktionsstatus der Linken nicht in Gefahr rücken würde. Ein durchaus relevanter Aspekt der Demokratie, nämlich die tatsächliche Entscheidungsgewalt, entfiel also. Zusammen mit der unübersichtlichen Wer-darf-jetzt-wählen-Lage war die Wahlbeteiligung von einem Haar über 50% leider im Bereich des Erwartbaren. Ein derartiger Wert ist jedoch für Bundestagswahlen so weit unterhalb der Norm, dass er auch nur beschränkt auf ein Fünftel der Berliner Wahlkreise Folgen haben musste. Und die Folge ist, dass Berlin mit dem Verlust von vier Abgeordneten die niedrigste Repräsentationsquote im Reichstagsgebäude seit der Wiedervereinigung überhaupt erhält.

3,4% der insgesamt 729 Sitze entfallen auf die Hauptstadt, das ist ein ganzes Prozentpunkt unter dem Bevölkerungsanteil Berlins an der Bundesrepublik und ein halbes Prozentpunkt unter dem langjährigen Durchschnittswert. Argumentierbar hat die tatsächliche Durchführung der Wahl zur eingeforderten Heilung demokratischer Grundsätze diese also eher beschädigt.
Offenlegung: Ich bin seit 2009 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und war von c. 2002 bis 2009 Mitglied der FDP.