Am kommenden Sonntag ist es wieder soweit: Vor 18 Uhr auf Basis der von Jörg Schönenborns vorab gewählten Fragen mutmaßen, in welche Richtung sich der Abend entwickeln wird. Erzählt der gute Mann eine Viertelstunde von den hervorragenden Werten eines lokalen Regierungsschefs? Oder von den, äh, nicht ganz so hervorragenden Werten der Bundesregierung? Ab 18 Uhr schwenkt der Ritus dann zu einem Rhythmus aus Balken-Animationen und Phrasen-Bingo – „Das Ergebnis werden wir in aller Ruhe analysieren“, „Ich hoffe noch auf Bewegung im Laufe des Wahlabends“, „Heute wird erst einmal gefeiert, morgen schauen wir uns dann die konkrete Umsetzung an“ – danke.
Beide diesmal beteiligten Länder sind mit „schwieriges Pflaster“ insbesondere für die SPD noch freundlich umschrieben. In Hessen hat die Partei zumeist auch ordentlich mediales Narrativ oder bundespolitische Macht eingebüßt:

- 1999 misslang Hans Eichel knapp die Wiederwahl zum Ministerpräsidenten, womit Rot-Grün kurz nach dem Amtsantritt Gerhard Schröders die Mehrheit im Bundesrat verlor.
- Im Rahmen einer längeren Malaise der zweiten Schröder-Amtszeit konnte die Union 2003 sogar eine absolute erringen.
- Um Haaresbreite verpasste Andrea Ypsilanti 2008 eine mögliche Abwahl Kochs: SPD und CDU hatten sogar die gleiche Anzahl Mandate im Landtag, die um einen Zehntelpunkt über der Sperrklausel im Wiesbadener Stadtschloss vertretene Linke machte allerdings traditionelle Koalitionen unmöglich. Eine Große Koalition wäre nur Beibehaltung von CDU-Ministerpräsident Koch denkbar gewesen. Mit vielen schlechten Optionen konfrontiert, gelang es der SPD, die allerschlechteste zu nehmen, ein Versprechen „nicht halten zu können“ und eine Linken-tolerierte Minderheitsregierung anzustreben. Das Ergebnis: Kurz vor Knapp entdeckten vier SPD-Abgeordnete ihr Gewissen, Ypsilanti scheiterte und die Union hat seither Platz 1 im Abo.
- Seit 2013 regiert eine schwarz-grüne Regierung unter zunächst Volker Bouffier, jetzt unter Boris Rhein, der auch als Spitzenkandidat für die CDU antritt. Seit fast einem Vierteljahrhundert findet Politik in Hessen also ohne Sozialdemokratie statt.
Umfragen früher und heute
Ein Blick auf die Umfragen (Rohdaten für die Diagramme wie immer auf meinem OneDrive) lässt vermuten, dass nicht nur im Willy-Brandt-Haus eher mäßige Stimmung herrschen wird: Mit etwas Pech kann die AfD zweitstärkste Partei werden und damit auch den Nimbus des reinen Ost-Phänomens ablegen. Die Linke wird wahrscheinlich ihr bis dato erfolgreichstes Altes Bundesland (jenseits von Bremen) verlieren und in einer noch krisenhaftere Krise rutschen (hier bitte schmissigen Rudi-Völler-Grantelsatz denken). Die FDP wird womöglich ebenfalls das Stadtschloss verlassen müssen, am Umzugstag kommen ihnen wohl die Freien Wähler entgegen, die nach Bayern, Brandenburg und Rheinland-Pfalz dann ihre vierte Landesparlamentsvertretung aufmachen.

Für die Landespolitik kommt es dabei womöglich auf jeden einzelnen Sitz an: Eine Fortsetzung von Schwarz-Grün ist denkbar, insbesondere in einem Fünf- oder Vier-Fraktionen-Parlament. Bundespolitisch sind ein paar Prozentpunkte Verlust für SPD und Grüne sicherlich ärgerlich, insbesondere ein potenzieller Abstieg der FDP bei gleichzeitigem Freie-Wähler-Einzug aber dürfte die Liberalen erheblich nervöser auftreten lassen. Und insbesondere ein Platzierung vor allen Ampel-Parteien wird der AfD Extra-Ladungen Häme und Zuversicht bringen. (Und ja, natürlich nimmt die Union eine leichte Bestätigung ihres Regierungsschefs gerne mit.)
Ein Blick auf die Umfragen der Vergangenheit im Vergleich mit dem tatsächlichen Ergebnis lässt dabei wenig Argmentationgsgrundlage für andere Szenarien, sämtliche Abweichungen vom Umfragen-Durchschnitt waren in den letzten zehn Jahren bei unter zwei Prozenpunkten. Aber immerhin: Auf die wird es ankommen.
Offenlegung: Ich bin seit 2009 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und war von c. 2002 bis 2009 Mitglied der FDP.