Wiederholungswahlen in Berlin 2023: Das eskalierte schnell

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Seit 2013 war ich fast immer als Wahlhelfer in Berlin vor Ort – zum „Superwahltag“ 2021 wurde ich nicht einberufen, wohl weil sich wegen des Versprechens auf frühe Impftermine schon sehr viele andere vorab gemeldet (und dann doch gekuscht) hatten. Im Nachhinein ein Glücksfall, denn im Vergleich zu den sonstigen Abläufen lief das Drama am 22. September des Vorvorjahres wie in der finalen Staffel einer Serie, wo der Writer’s Room noch einmal alles raushaut.

Trotz der zweifelsfrei vorhandenen massiven Durchführungsdefizite und Das-darf-nicht-passieren-Momente am Wahltag scheint es mir allerdings wenig plausibel, dass tatsächlich das Ergebnis der Wahl mandats- oder gar koalitionsrelevant beeinflusst wurde. Aber mich fragt ja niemand, also geht’s am Sonntag eben doch zur Urne. In der ganzen Stadt. Eskalation, Teil 1.

Da es sich hierbei um eine Wiederholungs-, und nicht um eine Neu-Wahl handelt, lässt sich auch durchaus darüber streiten, ob eine neue Koalition nach der Wahl tatsächlich im Sinne der Wahl ist. Geht es nur darum, die Mehrheit der bestehenden Koalition nochmal abzuchecken, gerade weil ja mit homöopathischen Ausnahmen die gleichen Listen und Kandidierenden zur Wahl stehen wie 2021? Die Regierende Bürgermeisterin Berlins, Franziska Giffey, hat sich entschieden, mit der Wahl auch offen neue Koalitionen zu diskutieren. Das kommt selbst bei einer regulären Wahl nicht oft vor – schließlich soll ja die gute bisherige Regierungsarbeit und folglich auch clevere Partnerwahl angepriesen werden, bei einer Eigentlich-nur-Zahlen-prüfen-Wahl ist es nochmal ungewöhnlicher. Zumal Dr. Giffey noch keine 20 Monate im Amt ist. Eskalation, Teil 2.

Die aktuelle Umfragen-Situation (wahlrecht.de, Tagesspiegel-Dashboard) ergibt ein spieltheoretisch interessantes Bild. Die CDU um Kai Wegner liegt vorne und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zum ersten Mal seit 1999 stärkste Fraktion, wenn auch weit ohne die Beinahe-Alleinherrschaft der Diepgen-Union. Dahinter kappeln sich SPD und Grüne um Platz zwei, Linke und AfD um Platz vier sowie die FDP mit relativer Sicherheit um den Einzug ins Parlament. Eine SPD-lose Regierung scheint nicht plausibel: Grüne, CDU und FDP spielen besonders auf das Feld ihrer wohl größten Unterschiede, die Verkehrspolitik.

Die SPD hält alle Karten

Die SPD kann also entscheiden.

Youtube-Video mit Franziska Giffey von der SPD-Kampagnenseite.
Weil gegen sie nicht regiert werden kann (Bildquelle: SPD-Kampagnenseite).

Erstens: In einer Deutschland-Koalition der mittelgroße Partner sein. Dagegen spricht, dass niemand unnötig den größten Sessel einer Regierung räumt. Dafür spricht, dass – trotz zahmer Fernsehdebatten – gerade zwischen SPD und Bündnis 90/ Grünen in jüngster Zeit wenig Sympathie verschenkt wurde. Giffey hat mit einiger Unredlichkeit so getan, als wäre etwa die erneute Sperrung der Friedrichstraße eine Überraschung für sie gewesen. (Auf einem anderen Blatt steht, dass die Maßnahme per se ein typisch grüner Kampagnenfehler war.)

Zweitens: In einer Variante der bestehenden Koalition Nummer Eins oder Zwei sein. Für mich ist dabei klar: Sollte die SPD zweitstärkte Kraft vor den Grünen werden, ist das die favorisierte Option. Giffey kann zur Abwechslung mal einen Titel behalten, und weite Teile der SPD-Basis favorisieren das bestehende Bündnis auch. Jenseits mäßig sinnvoller Straßensperrungen haben die drei Parteien auch inhaltlich wesentlich größere Schnittmengen als das Deutschland-Bündnis.

Allerdings: Sollte die SPD nur – es wäre das erste Mal in der Geschichte eines berlinweiten Parlaments überhaupt – drittstärkste Kraft werden, wird die Lage unübersichtlicher. Es scheint mir in jedem Fall unwahrscheinlich, dass sich Giffey dann halten könnte. Möglicherweise brechen Flügelkämpfe analog zu den Realo- und Fundi-Kabalen bei den Bündnisgrünen aus und völlig überraschend kommt es doch zu einem schwarz-grün(-gelben) Verbund?

Was scheint mir am wahrscheinlichsten? Wie immer haben Bündnis 90/Die Grüne in den letzten Wochen vor einer Wahl Eigentor-Hattricks zelebriert, das spricht für eine SPD auf Platz 2. Andererseits ist mit einer relativ niedrigen Wahlbeteiligung zu rechnen – und wie ich seit 14 Jahren hier feststelle, schadet das vor allem der Sozialdemokratie. Der erste CDU-Bürgermeister seit Diepgen? Möglich, aber ein rein numerischer Wahlsieg wird für Kai Wegner ebenso wenig ausreichen für Carsten Meyer-Heder in Bremen.

Offenlegung: Ich bin seit 2009 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und war von c. 2002 bis 2009 Mitglied der FDP. Bei der Wiederholungswahl strebe ich kein Amt oder Mandat an und bin weder direkt noch auf einer Liste Kandidat, weder auf Landes- noch auf Bezirksebene. Ich werde in einem Wahlvorstand als Beisitzer tätig sein (und diese Entscheidung vermutlich sehr bereuen).

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