Endlich ist es geschafft: Sauerstoffflasche und drei Kilogramm Müsliriegel einsteckt, hoch auf den Pile of Shame gestiegen – und mit Anno 1800 zig Stunden verbracht. Das Resultat war ein wenig Klickbait gegen mich selbst: ich war vom Ergebnis überrascht!
Anno 1800 ist ohne jeden Zweifel ein sehr gutes Spiel, dem man mit jedem Klick jahrelange Optimierungsrunden anmerkt – mit einem Telefonwerbungssternchen dran. Das Interface: mächtig, gut strukturiert, teilweise pro Insel anpassbar – aber mitunter auch gut über der Grenze zur Überfrachtung mit etlichen „wie komm ich jetzt wieder raus“-Momenten, mit ein paar fehlenden Komfort-Übersichten und, ganz wichtig, eben mit einer Wucht, die eher an Office-Pakete erinnert. Ich finde es faszinierend, dass Kopieren und Bewegen von Gebäuden darin Befehle sind – zusammen mit dem Blaupausen-Modus, in dem ich auch ohne Material schon einmal Bauten setzen kann -, ein klarer Sprung weg von der Immersion hin zu einer indirekteren Planungsebene. Der Geldfluss ist weitaus präsenter als in den Vorgänger-Spielen, mit einigen überraschenden Unwuchten und der bereits aus Anno 1503 bekannten Schwierigkeit, ohne Steuerschraube schnell bei Budget-Problemen Abhilfe zu schaffen. Die Aufteilung in Alte und Neue Welt (sowie weitere Sessions) gibt das Szenario natürlich authentischer her – sorgt aber eben auch für ganz schöne Längen bei kleinen Planungsfehlern.
Mit dieser Einordnung möchte ich das Spiel gar nicht primär kritisieren, denn es macht wahnsinnig viel richtig, richtig zufriedenstellend, inklusive dem Verzicht auf Landstreitkräfte. Es ordnet sich aber rein konzeptionell ganz klar am oberen Ende der Schwierigkeitsgrade für Aufbau-Strategie ein, selbst ohne die DLCs mit ihren schneller, höher, komplexer-Mantras. (Die Einbindung von Eisenbahnen als bloße Öllieferanten-Bummelbahnen finde ich enttäuschend, aber irgendwas ist ja immer.)
Und damit bietet es eigentlich enorme Möglichkeiten, für ein Spiel, das nicht in diese Kerben schlägt. Für ein Siedler, welches nicht einfach, aber einfacher ist, nicht rasant, aber etwas weniger behäbig, und lokal statt global. Klar: Da hat der Sofa-Bundestrainer Berti Burti Vogts jetzt zum Zielgruppenexperten umgeschult. Anno und Siedler bleiben deutsche Aufbau-Strategiespiele und damit sind sicherlich 70% der Positionierung gesetzt. Aber mit dem Rest lässt sich eben auch etwas anfangen.
Die Siedler können sich darauf konzentrieren, jede einzelne Ware – als Ware, nicht als Tonnage – und eben jede:n einzelne:n Siedler:in – nicht jedes Haus in der Siedlung – zu simulieren. Genau das haben die in den Erinnerungen so hochgeschätzten älteren Teile auch gemacht.
Entwicklung der Siedler in den Spiele-Magazinen
In der Vorbereitung für diesen Beitrag habe ich auch einmal geschaut, wie es in der Hoch-Zeit der Siedler aussah mit der Print-Berichterstattung. Der dritte Teil konnte noch je 1-2 Titelstories in den marktführenden Magazinen abgreifen, Siedler 4 jedoch „nur“ ein PC-Games-Cover. GameStar-Gründer und Erstchefredakteur Jörg Langer (heute Gamersglobal.de) zu meiner Vermutung (alle Hervorhebungen in Zitaten von mir):
„Nein, Die Siedler war bei GameStar nicht als Cover-Gift verpönt, im Gegenteil: Dass Strategie und Aufbau funktionierten, wussten wir ja, man sehe sich nur unsere diversen Anno-Covers über die Jahre an. Siedler 4 hatte schlicht das Pech, im selben Monat wie Black & White getestet zu werden, was auch ein Aufbauspiel war, aber halt wesentlich gehypter. Und so kam es, dass wir das als Cover gebracht haben, und Siedler 4 nur in der Unterzeile hervorhoben („Wieso Siedler 4 die bessere Wertung bekommt“).“
Auch die späteren Teile bekommen immer mal wieder Titelseiten-Relevanz, wenn auch fast nur als zweite oder „übrigens auch noch“-Geschichte.
Und wie sieht es mit der Bewertung aus? Hier gewinnt knapp der dritte Teil mit der höchsten Durchschnittsnote und mit der geringsten Standardabweichung, also der zweitkleinsten Spreizung in der Wertung.
Originaldaten wie immer auf meinem OneDrive. Wer übrigens über die „85“ der PC Player für Siedler 2 raunt trotz der Vier-Sterne-Bewertung – dazu habe ich Jörg Langer ebenfalls befragt:
„Die PC-Player-Sterne waren ja als subjektive Wertung eingeführt worden, wo die des Haupttesters nur größer dargestellt wurde (obwohl der oder die manchmal zehnmal so viel Spielzeit mit dem Titel verbracht hat als der Rest der angeblichen Tester zusammen – gerade bei unwichtigen Titeln). Im vorliegenden Fall waren sich aber alle fünf Meinungsäußerer einig und gaben vier Sterne. Das zeigt auch gut, wie wir den Gold-Player genutzt haben: Als eine Art Wertungserhöhung für Spiele, denen nur einer oder keiner fünf Sterne geben wollte, die aber dennoch aus Redaktionssicht besonders gut waren. Manchmal belohnte der Gold Player auch besondere Leistungen in einem Punkt, aber in der Praxis war es ungefähr das Äquivalent eines 85%-Spiels nach altem Wertungssystem. Darüber hinaus gab es ja dann noch den Platin-Player, der ab gedachten ca. 90% vergeben wurde.“
Klar erkennbar scheint, dass die Serie also um Teil 2 oder 3 herum ihren Höhepunkt hatte und seither immer mal etwas schief ging. Teil 4 zu hastig und bugverseucht veröffentlicht, Teil 5 zu kampflastig, Teil 6 zu simpel, Teil 7 zu brettspielartig und an die Online-Verbindung gebunden. Also einfach das beste aus allem nehmen? Einfacher geschrieben als getan:
Siedler 2 hat um sein Expandieren ein Wegesystem gesetzt. Das Tüfteln daran machte damals natürlich Spaß – aber es ist in einem Maß aus der Zeit gefallen, das für Außenstehende schwer vorstellbar ist. Der Strategie-Youtuber GamerZakh etwa hat kürzlich in einer Video-Reihe die Jubiläumsedition Die nächste Generation gespielt – und obwohl der gute Mann auch die schwierigsten Caesar 3-Karten wegputzt, kam ihm nicht in den Sinn, Wege zwischen zwei Fahnen zu duplizieren. Bereits bei den ersten Konzept-Meetings für den Nachfolger war dem Team um Volker Wertich klar: eine Logistiksimulation wie Teil 1 und 2 wären komplett aus der Zeit gefallen. Ein Vierteljahrhundert später hat sich das nicht geändert, es sei denn, jemand bei Ubisoft findet günstig die Railroad Tycoon-Lizenz für ein Spin-off.
Der so beliebte Teil 3 ersetzte den manuellen Wegebau durch automatische Trampelpfadgenerierung und brachte die magische Zutat der Endneunziger mit: Echtzeitstrategie (bitte mit etwas „Oh!“ und „Ah!“ denken). Wie ich bereits in den Anno-Beiträgen schrieb, war das die oberflächlich naheliegendste Vermählung überhaupt. Aufbauen und Einheiten markieren zum Kämpfen – los geht’s! Die Idee ist weniger offensichtlich obsolet als das Fahnenbauspielchen, aber ebenfalls mickrig gealtert und führt zu einer unklaren Produktpositionierung: Echtzeitstrategie selbst hat an Glanz verloren und sich weiterentwickelt, zudem hat eine tiefere Betrachtung der Mischung inzwischen zahlreiche Extra-Herausforderungen bis hin zur Unübersichtlichkeit der Stadtkämpfe hervorgebracht.
Die „Nische“ der Siedler
Vermutlich ist es zu spät, um den Pflug herumzureißen für das aktuelle Siedler-Projekt, und vermutlich wird es hernach kein weiteres mehr geben. Falls aber doch, wären die Möglichkeiten durchaus da:
- ich habe im vergangenen Post bereits Banished oder Die Sims als Inspirationen genannt, und tatsächlich bietet sich das an: Fokus auf das (Über)Leben der einzelnen, nicht auf die gesamte Stadt als ökonomische Einheit
- Anno ist groß, mit fünfstelligen Einwohnerzahlen in Wolkenkratzern: Die Siedler bauen beschauliche Dörfer, in der jede Animation spielbedeutend und nicht nur illustrativ ist
- Anno verkettet Inseln, die Siedler bleiben mit Ausnahme von Seen zum Fischen oder meinetwegen kleinen Rinnsalen mit Brücken drüber landgebunden
- Anno baut eine riesige Wirtschaft, die wirklich zu beherrschen einen Blick in die – im legendären Anno 1602-Ankündigungsbooklet belächelten – Statistik-Bildschirme braucht. Die Siedler bleibt bei der Nachvollziehbarkeit jeder Ware zu jedem Zeitpunkt.
- Die Jahreszahl sagt es schon: Anno spielt in der Blütezeit der Industrialisierung – die Siedler sollte sich anfühlen, als hätte jemand die Requisiten-Abteilung eines Mittelalterfestes ausgeraubt.
Immerhin scheint sich Ubisoft etwas Zeit zu lassen mit den nächsten Schritten, was für tatsächlich etwas grundlegendere Änderungen spricht. Im kürzlich veröffentlichten Jahresbericht gab der Konzern auch einen Ausblick auf die unmittelbar bevorstehenden Neuerscheinungen: Ein Anno 1800-DLC ist in der Liste, für die Siedler findet die Volltextsuche nichts: