Gefühlsmittelalter und Wohlfühlmerkantilismus: Anno und die dunklen Seiten der Geschichte

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Bei OK cool ist heute der Gastbeitrag eines ehemaligen Anno 1800-Entwicklers erschienen, in dem beschrieben wird, weswegen im Spiel keine Behandlung der Sklaverei stattfindet. Das 2019 erschienene Aufbauspiel steht damit in einer historischen Reihe – sowohl mit sich selbst als auch mit anderen Titeln, die mit XXL-Scheuklappen unterwegs waren.

Entdeckung einer Neuen Welt

Anno war zwar als Ursprungspitch „Siedler 2 mit Echtzeit-Kämpfen“ hinsichtlich der Spielmechanik, der narrative Rahmen hingegen ließe sich freundlichstenfalls als Reinterpretation des Exotizismus der Aufklärung deuten. Im Gegensatz zu den Siedlern, die feudales europäisches Setting respektive Antike abbilden, steht bei Anno von Anfang an die „Erschaffung einer Neuen Welt“ an, im Intro von Anno 1701 wird „westwärts mit den Delphinen“ gesegelt.

„Die Königin entsendet Sie in die Neue Welt“, ein weitgehend unberührtes Inselreich. Bildquelle

Seit dem ersten Spiel gibt es „fremde Völker“, mit minimalsten Handlungs- und Handelsräumen, erst ab 1404 werden die Fraktionen jenseits des mitteleuropäischen „Standards“ überhaupt spielbar und nicht nur Staffage für Luxusgüter. Das alles zahlt auf typische Klischees und Erzählungen der Kolonisierung der Welt ein, von den ach-so-unbesiedelten Weiten Nordamerikas bis zur Reduktion der Ureinwohner auf Jade-Bauchhändler. Und es war schon damals nicht so richtig gut und hätte – auch von mir in meinem Anno 1701-Test – angesprochen werden können.

Doch gerade in Anno 1800, das nach Science Fiction und Gefühlsmittelalter in eine greifbare historische Epoche geht, ästhetisch eher realistisch wirkt und historische Ereignisse wie die Weltausstellung bemüht, ist zudem auch eher geeignet, ein Geschichtsbild mitzuprägen.

Nein, am Ende dieses Artikels ist nicht die Lösung dafür, wie Spiele mit Sklaverei umgehen sollten. Gerade bei Strategie-Titeln, in denen Menschen ja ohnehin eher ein buchhalterischer Faktor als handlungsfähige Menschen mit Gefühlen sind, kann das natürlich enorm nach hinten losgehen.

In der Stay-Forever-Folge zu Colonization (ca. ab Minute 56) wird über die Ausblendung von Sklaverei und das Bild der amerikanischen Ureinwohner gesprochen; auch hier gibt es spielmechanische und auch „das ist halt unangenehm“-Überlegungen, aber gleichzeitig eben auch die Schlussfolgerung, dass wir so eine Fabel der Geschichte erzählen. Das heißt nicht, dass Leute nach einer Partie Anno 1:1 ihr Geschichtswissen mit der Spielerfahrung ersetzen, aber dass wir dennoch höhere Anforderungen stellen sollten – gerade an Medien, die wir mögen!

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