Eine der Fragen in meinem schriftlichen Abitur beschäftigte sich damit, inwieweit Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts politischer Natur seien. Dereinst holte ich aus, dass, unabhängig jeglicher rechtlichen Betrachtung, jede Entscheidung immer Gewinner und Sieger in unterschiedlichen politischen Lagern habe und einen Werdegang, der ein politischer Prozess ist. Das Beispiel der Stunde damals war übrigens eine Interpretation von uneinheitlichem Abstimmungsverhalten im Bundesrat.
Und nun also der Mietendeckel. Als er erstmals beschlossen wurde, gefiel mir daran eben, dass er sehr direkt und mit einem verständlichen Mittel ein sehr drängendes Problem angeht. Handlungswillen und -fähigkeit zu bezeugen ist ein zentrales Element, um zu verhindern, dass sich die Menschen weiter von der Politik abwenden.
Experimentiergebiet
Ein Problem dabei aber ist das, was in der Einführung als „juristisches Neuland“ beschrieben wurde und nun gescheitert ist:
Nach Ansicht der Koalition gab es somit ein privates „Mietvertragsrecht“, für das der Bund zuständig sei. Aber es gebe eben auch ein „Mietpreisdeckelrecht“, das dieser individuellen Freiheit Privater staatlicherseits eine (Ober-)Grenze setzen darf.
Tagesspiegel: „Der Berliner Mietendeckel war ein Experiment – aber nicht absurd„
Es ist natürlich ein bisschen einfach, hinterher zu sagen, dass hier offensichtliche Schelmerei vorliegt, aber… die Begründung des Bundesverfassungsgerichts ist tatsächlich sehr lehrbuchhaft. Keine konkurrierende Gesetzgebung, keine Öffnungsklausel, keine Möglichkeit auf Landesebene.
Die Berliner Opposition nannte das „Verfassungsbrauch mit Ansage“; sicherlich eine im Moment des Sieges wohlfeile Formulierung, aber tatsächlich ist die grundsätzliche Frage des ethischen Handelns hier auch relevant: Wenn ich glaube, dass ein Gesetz vielen Menschen mit ihrem Problem (und mir mit meiner Zustimmung in der Bevölkerung) hilft, aber es tatsächlich ein erhebliches Risiko hat, negiert zu werden mit potenziell schlimmerem Ausgang, was ist dann die korrekte Handlung?
Unterrichtsstunde
Rein prozedural ist das Vorgehen hier praktisch aus dem Lehrbuch: Eine Normenkontrollklage eines Verfassungsorgans (Mitglieder des Bundestages von Union und FDP) und das Gericht entscheidet über Zuständigkeit.
So schön sich das jedoch im Schaubild ausmacht: Der Zeitpunkt des Urteils kommt natürlich denkbar ungünstig. Selbst wenn Menschen sich an den Ratschlag der Berliner Koalition gehalten hätten, die Differenz zwischen alter und gedeckelter Miete zu sparen, sind etliche spätestens im letzten Jahr dazu sicherlich außer Stande gewesen.
Dafür kann das Bundesverfassungsgericht nichts, bei einer Normenkontrollklage geht es ja überhaupt nicht im um einzelne Betroffene, sondern eben abstrakt um die Richtigkeit eines Gesetzes. In Berlin tun Koalition und Vermieter gut daran, die Lage für die Betroffenen möglichst glimpflich zu handhaben. Tatsächlich sind die Risiken für Menschen mit wenig kulantem Vermieter durchaus erheblich.
Bundesthema
Richtig ist aber auch: so umfassend das Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeit des Landes Berlin abgelehnt hat, so wenig hat es sich materiell mit dem Gesetz befasst. Das heißt nicht, dass ein Bundesmietendeckel nicht auch scheitern könnte, etwa weil zu hohe Eingriffe in Vertragsrecht oder Berufsfreiheit gesehen würden – aber zumindest wäre er der nächste Schritt.
Das scheint in vielerlei Hinsicht ein gute Nachricht: Es gibt ein innenpolitisches Thema für den Wahlkampf – auch wenn ich skeptisch bleibe, was rot-rot-grüne Mehrheiten im Bund angeht. Und wie auch das Mietrechtsnovellierungsgesetz (das mit der „Mietpreisbremse“) wäre ein solches Gesetz nicht zustimmungspflichtig durch den Bundesrat, wo die Union absehbar mindestens die Hälfte der Stimmen beeinflusst.
Schließlich haben wir ja gerade geklärt, dass der Bund hier zuständig ist.
Offenlegung: Ich war von c. 2002 bis 2009 Mitglied der FDP und bin seit 2009 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Ich strebe auf keiner politischen Ebene ein Amt oder Mandat in irgendeiner Wahl 2021 an.