Landtagswahlen in Baden-Württemberg 2021 (1): Die Ausgangslage

Politik

Es gibt ja immer wieder so historische Momente der Marke „Wo waren Sie, als… geschah?“ Typischerweise der Mauerfall oder die Anschläge vom 11. September 2001. In meiner gänzlich unrepräsentativen Fassung kommt noch der 11. März 2011 hinzu. Es war die Zeit meiner werktäglichen Bahnreise Berlin-Hamburg, auf den knapp 300 Kilometern hin holte ich mir noch ein wenig Schlaf nach, auf dem Weg zum Bahnhof vorher konnte ich die ganzen News, die aus Übersee über Nacht rüberschwappten, konsumieren. Das Aufwachen in Hamburg war meistens ereignislos (wenn ich nicht gerade meinen Ausstieg verpasste). Eine Ausnahme bildete besagter Märzmorgen, den als ich Twitter aufmachte, waren die Nachrichten voll von #Fukushima.

Der Weg zur Villa Reitzenstein

Sechzehn Tage später: Die Grünen setzen sich – mit einem erkennbaren Effekt in eben den letzten zwei Wochen – auf den zweiten Platz und werden erstmals Senior-Partner in einer Landesregierung, Winfried Kretschmann wird von einem geachteten Oppositionspolitiker zum, wie der Economist sagt, mächtigsten Grünen-Politiker überhaupt1.

Ein Grüner, in einem bürgerlichen Industrieland mit Abo auf schwarz-meistens-gelbe Regierungen! Was heute gegeben scheint, war dereinst wirklich ein Dammbruch.

Und als wäre das nicht genug: 2016 wurde die Partei auch noch stärkste Kraft im Stuttgarter Landtag und führte fortan eine Koalition an, deren puren Aussprechen Jahre zuvor freundliche Nachfragen nach dem Geisteszustand zur Folge gehabt hätte: Grün-Schwarz folgte auf Grün-Rot.

Aktuell steht Kretschmann genau da, wo ein Regierungschef vor der Wiederwahl sein möchte: weitgehend geschätzt, quasi skandalfrei, und als primärer Gegner der Juniorpartner der eigenen Koalition.

Die letzten Wahlen im Überblick

Tatsächlich zeigen die letzten Wahlen im Südwesten (Rohdaten wie immer auf meinem OneDrive) ein paar deutliche Entwicklungen, von denen etliche dem Bauchgefühl des prosperierenden, solide regierten Bundeslandes mit Schwarzwaldcharme und Daimler-Ökosystem entgegentreten:

Diagramm: Landtagswahlen in Baden-Württemberg seit 1992.
  • eine lange sehr stabile CDU, die jahrzehntelang unumstritten stärkste Kraft war,
  • eine historisch schwache SPD, die ein einziges Mal überhaupt über 30 Prozent der Zustimmung erhielt,
  • eine für die Reputation des Bundeslandes gar nicht mal so übermäßig starke FDP – zwar nie außerparlamentarisch, aber nur ein einziges Mal überhaupt zweistellig,
  • immer wieder überraschend: die Republikaner. Auf dem Höhepunkt der unsäglichen Asylkrise als drittstärkste Kraft in den Landtag eingezogen, hielten sie sich noch ein Jahr im Parlament und verpassten selbst 2001 nur knapp den Einzug. In einem Beitrag zur Parallität zwischen AfD- und Rep-Ergebnissen konnte ich dereinst deutliche Korrelationen feststellen.
  • Dementsprechend nicht überraschend: eine starke AfD. Drittstärkste Kraft und damit formal stärkste Opposition.

In der nächsten Ausgabe: Wie die Umfragen für den Wahlgang am Sonntag aussehen und was das für den Südwesten und den Rest der Republik bedeutet.

Offenlegung: Ich war von c. 2002 bis 2009 Mitglied der FDP und bin seit 2009 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Ich bekleide kein Partei- oder Parlamentsamt und strebe auch nichts davon für 2021 an.

  1. Die unkritische Einbindung von Boris Palmer als Zitatgeber sei angemerkt.

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