In diesem Beitrag sehe ich mir ganz klassisch an, wie Niedersachsen in der Vergangenheit gewählt hat und wie die aktuelle Umfragesituation aussieht. Das Land war geprägt von einem enormen Zuwachs für die SPD unter Gerhard Schröder und einem katastrophalen Rückgang unter seiner Kanzlerschaft. Kandidat 2003 war übrigens Sigmar Gabriel.
Ähnlich der bundesweiten Entwicklung gewannen die kleinen Parteien nach der Jahrtausendwende allmählich an Bedeutung – der Anteil von CDU und SPD am Gesamtergebnis schrumpfte von einst deutlich über 80 Prozent zu zuletzt nur noch zwei Dritteln.
Umfragen damals und jetzt
Meine Analyse vor der Wahl 2013 ergab, dass die FDP immer ein klein wenig zu schlecht eingeschätzt wurde und, deutlich schwächer, die SPD etwas zu stark. (Für die PDS/Linke war die Datenbasis doch etwas zu schmal.) Formal hat sich das 2013 bestätigt. Die Liberalen wurden fast durch die Bank an der Fünfprozentgrasnarbe kauernd gesehen, erreichten schließlich aber – zu Lasten der Union – ein um fast fünf Punkte besseres Ergebnis. SPD, Grüne und Linke dagegen trafen relativ genau im demoskopisch erwarten Korridor ein.
Daraus lässt sich weniger eine FDP-Antipathie der Umfrageinstitute herleiten als ein grundsätzliches Dilemma: Last-Minute-Erwägungen lassen sich äußerst schwer abbilden. Offensichtlich wollte eine hinreichend große Menge von Eigentlich-CDU-Wähler*innen eine rot-grüne Regierung verhindern und glaubten, das ist am Besten erreichbar, wenn die FDP auch im Parlament bleibt. Logische Überlegung, allerdings bei Umfragen schwieriger zu erfassen.
Analoges gilt für ein zweites, häufiger auftretendes Problem: das, was im Englischen (und nunmehr oft auch auf Deutsch) Momentum heißt und im Physikunterricht immer als Impuls bezeichnet wird. Stellen wir uns ein Radrennen ohne Luftwiderstand und Windschatten vor. Radfahrerin 1 und 2 sind gleich schnell, 1 hat jedoch ein paar Meter Vorsprung. Wenn nun 2 auf einmal kurz deutlich strampelt und die Geschwindigkeit erhöht, behält sie diesen Impuls radelt so an 1 vorbei.
Vor Wahlen passiert ähnliches, wenn zum Beispiel eine Krise oder Entwicklung sich erst in den letzten Tagen entfaltet. Umfragen haben einen Nachlauf von mindestens einer halben Woche, so können besondere Schwingungen in letzter Minute aus den Rohdaten nur schwierig erkannt und projiziert werden. Beispiele hierfür sind zum Beispiel die Aufholjagd von Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz 2016 oder der fulminante Blitzaufstieg der Piraten 2011.
Was heißt das für Niedersachsen? Dass die jüngsten Entwicklungen – ein für den SPD-Ministerpräsidenten gut gelaufenes Fernsehduell, ein Zerwürfnis in der CDU – eine Kehrtwerde andeuten. In den Umfragen hat Stefan Weil bereits deutlich aufgeholt, es wäre aber nicht überraschend, wenn die Sozialdemokraten die jüngsten Ergebnisse noch etwas übertreffen.