Abgeordnetenhauswahlen in Berlin 2016: Ausgangslage und Umfragen

Politik

Die Nachwirkungszeit der meisten politischen Skandale ist begrenzt. Ob Bonusmeilenprivatverfliegerei, Schwippschwägerversippschaftung bei öffentlichen Aufträgen oder auch nebulöse Spendengelder: von den meisten Malaisen erholt sich eine Person oder eine Partei nach einer Legislatur des Vergessens wieder. So sind weder Kirch noch Schreiber derzeit Bleigewichte an der CDU-Zustimmung, so kam Gregor Gysi vier Jahre nach seinem Rücktritt als Berliner Wirtschaftssenator zurück in die Politik. Es gibt einzelne spektakuläre Ausnahmen davon wie zu Guttenberg. Und, als langfristige Verschiebung des politischen Gewichts, den Berliner Bankenskandal.

Mittlerweile fünfzehn Jahre sind vergangen und die grundsätzliche Neuordnung der Berliner Parteien seither ist unangefochten geblieben. War die Union in der Ära Diepgen mitunter in Steinwurfweite einer absoluten Mehrheit, dümpelt sie seither in bestenfalls mittleren Zwanzig-Prozent-Regionen umher. Nutznießer der später wieder schwächelnden SPD waren andere – die Grüne stiegen langsam auf, die Piraten begannen 2011 ihre kurze Tour in die Landesparlament. Selbst von der 2011 krachend scheiternden FDP konnte die Union nicht profitieren.

Ergebnisse bei Wahlen des Berliner Abgeordnetenhauses seit einschließlich 1990

Ergebnisse bei Wahlen des Berliner Abgeordnetenhauses seit einschließlich 1990

Die kommende Wahl wird das Spektrum nicht wieder in Richtung CDU verschieben, sondern einen allmählichen Wandel fortsetzen: 2001 war die erste Landtagswahl n der Bundesrepublik, bei der keine Partei 30% der Stimmen erhielt. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wird am Sonntag die erste Wahl sein, bei der niemand auch nur ein Viertel der Stimmen auf sich vereinen kann. Somit wird, auch das ein Novum, erstmals auch rechnerisch kein Zwei-Parteien-Bündnis mehr möglich sein. (In Sachsen-Anhalt wäre, rein mathematisch, eine CDU-AfD-Koalition mehrheitsfähig.)

Weswegen Frank Henkels Strategie nicht verfängt

Die Strategie der Union gegen einen Abschwung vor Wahlen ist hingegen altbekannt: Seit Roland Koch 1999 mit der Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft Ministerpräsident wurde und die rot-grüne Bundesregierung ihre Mehrheit im Bundesrat verlor, probiert die Union sich immer wieder in Kampagnen, die bestenfalls missverständlich zu nennen sind.

Allein, das Manöver ist nicht beliebig wiederholbar, wie Roland Koch 2008 und Lorenz Caffier vor zwei Wochen in Mecklenburg-Vorpommern feststellen mussten. Eine Oppositionspartei kann lauthals zwischen Law-and-Order-Vorschlägen und Polemik mäandern – aber die CDU ist in Berlin an der Regierung. Der Versuch, abtrünnige CDU-Wähler der Marke Lummer so einzufangen, führt womöglich eher zu einer Stärkung der FDP.

Die Situation in den Umfragen: wenig echte Bewegung

In den letzten Wochen vor einer Wahl kann es bedeutende Entwicklungen geben, die in den Umfragen aufgrund der Verzögerung zwischen Veröffentlichungsdatum und Befragungszeitraum nur träge abgebildet werden. 2011 war das der enorme Zugewinn der Piraten auf den letzten Metern, in Mecklenburg-Vorpommern vor zwei Wochen das deutliche Absetzen der SPD als Spitzenreiter.

Derartig klare Bewegungen sind für diese Wahl (Umfragen wie immer von wahlrecht.de) nicht erkennbar. CDU, Linke und Grüne haben zwar leichte Abwärtsbewegungen hingelegt, während die AfD etwas in der Demoskopengunst stieg und sich die FDP stabil über der Fünf-Prozent-Hürde etablieren konnte, aber überwiegend zeigen die nachfolgenden Analysen recht eindeutig horizontale Linien.

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Umfragenentwicklung für die SPD

Umfragen-Entwicklung für die CDU

Umfragenentwicklung für die CDU

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Umfragenentwicklung für Bündnis 90/Die Grünen.

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Umfragenentwicklung für Die Linke

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Umfragenentwicklung für die AfD

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Umfragenentwicklung für die FDP

Eine Ausnahme bilden die von Forsa herangezogenen Zahlen, die für die SPD anfangs deutlich mehr und für die AfD deutlich weniger Zustimmung signalisierten, jetzt aber inmitten der anderen Resultate gelandet sind. Ein möglicher Grund hierfür könnte eine Anpassung der Rohdatenverwertung nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern sein; eine weniger freundliche Lesart unterstellt eine Prägung des öffentlichen Bildes in SPD-freundlichem Sinne. (Siehe hierzu auch meinen vergangenen Beitrag zu demoskopischen Anpassungen).

Alles auf Rot-Rot-Grün

Landet die Union erneut unter 20%? Wird die AfD erstmals seit Langem „nur“ viert- oder gar fünftstärkste Kraft bei einer Landtagswahl? Gelingt der FDP der Einzug in ein zumindest teilweise ostdeutsches Bundesland? Solche Detailfragen können morgen noch beschäftigen. Im Großen jedoch gibt es wenig Grund, von dieser Wahl etwas anderes zu erwarten als ein rot-rot-grünes Bündnis.

Für Zweier-Koalitionen fehlen mathematisch plausible Mehrheiten, ein SPD-CDU-FDP-Ensemble ist rechnerisch am Rande, politisch jenseits des Machbaren, eine Jamaika-Koalition in beidem noch entfernter. Und es werden die Spekulationen beginnen, inwieweit dies ein Fanal für den Bund 2017 ist.

Offenlegung: Ich war von 2002 bis 2009 Mitglied der FDP. Ich bin seit 2009 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Bei dieser Abgeordnetenhauswahl kandidiere ich auf keiner Landes- oder Bezirksliste.

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