Zugegebenermaßen: So richtig zeitnah zur letzten Unterhauswahl im Vereinigten Königreich (nachfolgend UK oder, nicht ganz korrekt, Großbritannien) ist dieser Beitrag nicht mehr. Tatsächlich wollte ich ihn bereits im Mai schreiben, aber dann geschahen Dinge, und schon ist es fast 2016. Also, warum das Ganze?
- Wir erinnern uns: Bei der diesjährigen Unterhauswahl haben David Camerons Konservative eine absolute Mehrheit der Mandate erhalten.
- Labour verlor im Vergleich zur vorherigen (verlustreichen) Wahl weiter an Sitzen, obwohl ihr Stimmenanteil leicht stieg., was auch auf Schottland zurückzuführen ist, wo die Schottische Nationale Partei (SNP) CSU-artig abräumte.
- Durch einen mit dem leicht staubigen Begriff erdrutschartig gut umrissenen Absturz verloren die Liberaldemokraten fast alle Sitze, zumeist eben an die Konservativen.
Die sich daraus entwickelnde Fragestellung: Wie stehen in einem Großbritannien, das entweder nach einem möglichen weiteren Referendum ohne Schottland auskommen muss oder in dem die SNP weiterhin fast alle Sitze holt, die Chancen für eine Mehrheit von Labour?
Weswegen kleine Auswirkungen im Votum so massive Mandatsverschiebungen zur Folge haben? Weil in Großbritannien ein Mehrheitswahlrecht gilt: Der Kandidat, der in einem Wahlkreis die meisten Stimmen hat – auch als einfache Mehrheit -, zieht ins Unterhaus ein. Das ist für regional starke Parteien in Wales, Schottland und Nordirland gut, für breit aufgestellte, aber eben nirgendwo erdrückend starke Gruppen wie UKIP oder die Britischen Grünen schlecht.
Methodik
In der nachfolgenden Untersuchung werden die letzten fünf Wahlen zum Unterhaus betrachtet, seit Tony Blairs Labour-Wiederbelebung 1997. Wie wäre die entsprechende Wahl verlaufen, wenn
- Schottland ein unabhängiger Staat wäre (aktuell nicht in Aussicht, aber ggf. nach dem Britischen EU-Referendum), also grundsätzlich keine Mandate im Unterhaus hat (die dritte Spalte),
- Schottland zwar weiterhin zum Vereinigten Königreich gehört, aber mit überwältigender Mehrheit SNP wählt (die zweite Spalte; die übrigen drei Parteien behalten je maximal einen ihrer Sitze in Schottland bei dieser Betrachtung)?
Natürlich ist das weder eine zuverlässige Prognose für künftige Wahlen noch eine kettenhemdgleich stichsichere Exkursion in alternative Vergangenheit. Wie sich Parteien und WählerInnen verhalten, hängt ja immer von den Umständen ab. Dennoch ist es interessant zu sehen, welche Auswirkungen der Verlust des meist Lib-Lab-treuen Schottlands auf die Politik des Königreichs hat.
Wieso hat die SNP bei der letzten Wahl so zugelegt? Sie profitierte von einer neuen Führung und der Aufmerksamkeit um die schottische Unabhängigkeitskampagne. Fivethirtyeight schrieb dazu: “ The crucial difference is that whereas 45 percent is always insufficient to win a referendum, it can be enough to win a landslide in an election that is held under the first-past-the-post electoral system and in which a multitude of parties are in contention.“
Die Wahlen im Detail
Detaillierte Ergebnisse auch bei der European Election Database. Die Zahl in Klammern bei den summierten Parlamentssitzen gibt die Anzahl ohne die Abgeordneten von Sinn Fein wieder, weil diese ihren Sitz aufgrund des nötigen Treueschwurs auf die Königin nicht einnehmen.
Wahl | Tatsächliches Ergebnis | Ergebnis mit SNP-Schottland | Ergebnis ohne Schottland |
2015 |
CON: 331, LAB: 232, SNP: 56, LIB: 8; Summe: 650 (646) Leichte Mehrheit für Konservative Regierung,erfordert jedoch Disziplin |
(äquivalent) | CON: 330, LAB: 231, LIB: 7 Summe: 597 (593)Deutliche Mehrheit für Konservative, auch erhebliche innerparteiliche Abspaltungen verkraftbar |
2010 | CON: 306, LAB: 257, SNP: 6, LIB: 57 Summe: 650 (645)“Hung Parliament“ erfordert Koalition von Konservativen und liberaldemokraten |
CON: 306, LAB: 218, SNP: 56, LIB: 47 Summe: 650 (645)Mehrheit für Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten weiterhin möglich |
CON: 305, LAB: 256, LIB: 56 Summe: 597 (592)Knappe Mehrheit für rein Konservative Regierung |
2005 |
LAB: 355, CON: 198, LIB: 62, SNP: 6; Summe: 646 (641) Gegegenüber 2001 geschrumpfte, aber immer noch deutliche Mehrheit für Labour |
LAB: 315, CON: 198, LIB: 52, SNP: 56; Summe: 646 (641) Koalition von Labour und Liberaldemokraten oder SNP erforderlich |
LAB: 314, CON: 197, LIB: 51; Summe: 587 (583) Mehrheit für reine Labour-Regierung |
2001 |
LAB: 413, CON: 166, LIB: 52, SNP: 5; Summe: 659 (655) Beinahe Zwei-Drittel-Mehrheit für Labour |
LAB: 358, CON: 166, LIB: 43, SNP: 69; Summe: 659 (655) Weiterhin komfortable Labour-Mehrheit |
LAB: 357, CON: 165, LIB: 42; Summe: 587 (583) Exakt: Weiterhin komfortable Labour-Mehrheit |
1997 |
LAB: 418, CON: 165, LIB: 46, SNP: 6; Summe: 659 (657) Beinahe Zwei-Drittel-Mehrheit für Labour |
LAB: 363, CON: 165, LIB: 35, SNP: 70; Summe: 659 (657) Weiterhin komfortable Mehrheit. (Die Konservativen hatten bei dieser Wahl keinen Sitz in Schottland gewonnen.) |
LAB: 362, CON: 165, LIB: 35; Summe: 587 (585) Spoiler Alert: Komfortable Labour-Mehrhet |
1997 und 2001 waren Ausnahme-Wahlen mit einem damals enorm beliebten Spitzenkandidaten, einer Ligen über dem Wettbewerb spielenden Kampagne und einer schwachen Opposition. Wenn sich das nicht wiederholt, ist Labour in einem Vereinigten Königreich mit Schottland und starker SNP langfristig auf deren Kooperation angewiesen. Ein unabhängiges Schottland macht die Lage Aussichten für reine Labour-Regierung einfacher als ein SNP-dominiertes; allerdings erhöht es auch die Chancen auf konservative Mehrheiten, da Camerons Partei in England selbst durchweg stärker ist als in den anderen Gebieten des Königreichs.
https://www.youtube.com/watch?v=VwGZinTeodc