In den vergangenen neun Beiträgen dieser Reihe wurde jede Reichstagswahl sowie jene zur verfassunggebenden Nationalversammlung dahingehend untersucht, inwieweit etwaige Quorenregelungen beim Wahlrecht, also einen Fünfprozenthürde in unterschiedlicher Strenge, Änderungen an der Sitzverteilung ergeben hätten, die demokratische Mehrheiten stabilisiert hätten.
Die nachfolgende Tabelle führt alle betrachteten Wahlen auf (verlinkt zum jeweiligen Beitrag) sowie die dabei entstehenden sowie hypothetischen alternativen Mehrheiten bei Quorenregelungen. Verwendete Abkürzungen: WK = Weimarer Koalition (SPD, DDP, Zentrum), WK+ (Weimarer Koalition mit BVP), GK = Große Koalition (SPD, DDP, Zentrum, BVP, DVP), MB = Mittelstandsblock (DDP, Zentrum, DVP), BB = Bürgerblock (DDP, Zentrum, DVP, DNVP), RB = Rechtsbürgerblock (Zentrum, DNVP, NSDAP), VB = Völkischer Block (DNVP, NSDAP). * an einer gebildeten Regierung deutet auf eine Minderheitsregierung hin.
Wahl | Mehrheiten | Neue hypothetische Mehrheiten | Kabinett(e) |
19. Januar 1919 | WK, WK+, GK, BB | WK | |
6. Juni 1920 | GK, BB | WK+ bei 5%-Hürde | MB* |
4. Mai 1924 | GK, BB | MB* | |
7. Dezember 1924 | WK+, GK, BB | WK bei strenger 5%-Hürde | MB*/BB |
20. Mai 1928 | WK+, GK | WK (ohne DDP) 5%-Hürde | GK, Präsidialkabinett |
14. September 1930 | WK+ (ohne DDP) bei 5%-Hürde | Präsidialkabinett | |
31. Juli 1932 | RB | Präsidialkabinett, RB | |
6. November 1932 | RB bei 5%-Hürde | RB | |
5. März 1933 | VB | RB/VB |
Richtig ist, dass die Anzahl der Koalitionsoptionen mit fortschreitendem Republikalter schrumpft und dass sich immer wieder theoretische Möglichkeiten ergeben hätten, andere Regierungen zu bilden.
Wäre also eine Welt denkbar in der 1930 kein Kabinett von Hindenburgs Gnaden, sondern eine SPD-geführte gemäßigte Regierung zustande kommt?
Politik jenseits des mathematisch Möglichen
Nicht so schnell, junger Freund kontrafaktischer Geschichte! Zum Einen: Ja, in einer unendlichen Anzahl von Szenarien ist das sicherlich eine Option. Zum Anderen: Der Blick auf die Arithmetik verstellt hier den Blick auf die Politik. Weiter oben in der Tabelle fällt nämlich ein Gegensatz auf; die tatsächlich möglichen Koalitionen entsprachen selten den auch wirklich umgesetzten. Hierfür gab es jeweils eine Reihe von Gründen:
- Die SPD wollte nicht aktiv an Regierungen der bürgerlichen Parteien mitwirken, um für deren nicht immer arbeiterfreundliche Politik mit in Haftung genommen zu werden, sah sich aber gleichzeitig in der Pflicht, grundsätzlich eine handlungsfähige Exekutive zu unterstützen, also tolerierte sie mehrere Minderheitsregierungen.
- Die DNVP wiederum wollte auch in ihrer gemäßigten Phase nicht mit außenpolitischen Entscheidungen assoziiert werden, die als Schwäche Deutschlands oder gar Niederlageneingeständnis gegenüber Frankreich interpretiert werden könnten, und schied deshalb periodisch aus rechtsbürgerlichen Regierungen aus
- Umgekehrt wurde in den späten schicksalhaften Jahren eine unnötige Große Koalition gebildet, um Stresemann (und damit die DVP) mit in die Regierung zu holen.
- Ähnlich gestrickt: Gleich zu Beginn der Nationalversammlung lehnte die DDP eine sozialliberale Koalition mit der SPD ab, weil sie diese darin für zu stark hielt.
Doch nicht nur ihr das Garnichterstzustandekommen, auch das Scheitern von Regierungen begründete sich nicht immer nur an fehlenden parlamentarischen Mehrheiten. Die einzelnen Beiträge führen die Gründe näher aus, das Spektrum reicht von Gebietsverlusten durch Volksentscheide bis zu aufgedeckten politischen Intrigen.
Wer zum Vergleich die aktuelle Lage heranzieht, stellt zwei grundsätzliche Änderungen fest. Zum einen ist es abgesehen von Allparteienregierungen wie im frühen Nachkriegswestberlin üblich, keine arithmetisch unnötigen Koalitionspartner aufzunehmen (Beispiel: absolute Mehrheit statt Fortsetzung einer weiter möglichen Koalition.) Zum anderen ist das Verlassen von Regierungen sowohl politisch weniger opportun als auch gesetzlich deutlich erschwert; das konstruktive Misstrauensvotum setzt die Hürde deutlich höher als das einfache Misstrauensverfahren der Weimarer Republik.
Demokraten, „Demokraten“ und ihre Gegner
Die Tortendiagramme der vergangen Beiträge waren immer so gedreht, dass die Sitze der SPD bei Null Grad („oben“) beginnen. Warum? Weil die Mandate der KPD für Regierungsbildungen grundsätzlich nicht zu gebrauchen waren; in den späten Jahren der Republik sahen die Kommunisten ihre Hauptfeinde in der Sozialdemokratie statt in den Nationalsozialisten, eine Unterstützung etwa für eine SPD-geführte Regierung war undenkbar. Das engte den Spielraum der Demokraten weiter ein. Das nachfolgende Diagramm führt en detail Koalitionen und ihren Anteil an Stimmen (nicht Sitzen) in den einzelnen Wahlen auf:
Die Verfassung der Weimarer Republik wies ihren Präsidenten weitreichende Befugnisse zu, auch die Ernennung nicht parlamentarisch gestützter Kabinette. Formal gesehen ließen sich nun hübsche „Checks and Balances“-Pfeile mit dem Reichstag zeichnen, doch dafür hätte es in diesem handlungsfähige Mehrheiten gebraucht. Der Reichspräsident war also dann gefragt, wenn der Reichstag selbst besonders uneins und geschwächt war; dann wiederum war der Reichstag aber zu schwach, um ihm ein Gegengewicht zu liefern. Dieser aus dem Ruder gelaufene Regelkreislauf erhöht jedoch die Relevanz einer Frage: Wer ist Reichspräsident?
Anfangs war das der durch die Weimarer Koalition in der Nationalversammlung gewählte Friedrich Ebert. Nach dessen überraschendem Tod jedoch (auch das ein Muster der Republik) wurde schließlich im zweiten Wahlgang Hindenburg gewählt. Der aus der Obersten Heeresleitung. Es ist nachgerade absurd zu glauben, eine Republik, die einen greisen Militärdiktaturaspiranten zu ihrem Staatsoberhaupt wählte, sei an der Demokratiefeindlichkeit zu kleiner Tortendiagrammstücke zu Grunde gegangen.
Gleichzeitig zeigt sich in Hindenburgs Wahl neben der Kompromissunfähigkeit der KPD, die sinnloserweise Ernst Thälmann in den zweiten Wahlgang schickte, ein weiteres Problem – der allmähliche Rechtsruck vieler Parteien:
- 1919 war die BVP noch keine Konkurrenz zum Zentrum, sondern in bester CDU/CSU-Analoge als mittelbar eigenwillige Schwesterpartei; in den folgenden Jahren trat sie in Konkurrenz an und versagte etwas 1925 bei der Reichspräsidentenwahl Marx, dem Kanidaten der Weimarer Koaltion, ihre Unterstützung
- die DNVP, wenngleich nie ihrer ostelbischen Pickelhäubigkeit beraubt, erlebte zeitweilig eine gemäßigte Phase, gegen Ende der 1920er Jahre jedoch gewann der radikale Flügel unter Alfred Hugenberg die Oberhand, während die gemäßigten Deutschnationalen Splitterparteien gründeten
- die DVP wurde primär von Gustav Stresemann in ihre zeitweilig republiktragende Rolle gebracht, nach dessen Tod traten ihre weniger demokratischen Eigenschaften stärker auf, was Koalitionsfähigkeit insbesondere mit der SPD einschränkte
- auch im Zentrum verschob sich der politische Mittelpunkt – am sichtbarsten letztlich in Papen, der Hitler in sein Kabinett holte
Insbesondere Zentrum und DNVP waren dabei immer mit mehr als fünf Prozent der Zustimmung im Parlament, die anderen beiden je nach Zählweise zumindest bis fast zum Ende. Unabhängig von ihren Ergebnissen wurden also tragfähige Koalitionen oder auch nur Tolerierungen durch die SPD immer weiter erschwert.
Rahmenbedingungen
Bekannt: Die Geburtsstunde der Weimarer Republik ist das Ende des Ersten Weltkrieges, mitsamt gewaltigen geschichtsklitternden (→Dolchstoßlegende), wirtschaftlichen und innenpolitischen Hypotheken. Mehr als Hunderttausend Menschen demonstrieren gegen die Regierung, der Kapp-Putsch zwingt das Kabinett zur Flucht nach Stuttgart, Erzberger und Rathenau werden Opfer politisch motivierter Morde, die Inflation rechtfertigt die Einführung logarithmischer Skalen, die ständigen Termine zu Reparationsverhandlungen rechtfertigen die Einführung einer ReichsBahnCard 100.
Mitunter ist es da schon fast erstaunlich, dass die Republik überhaupt 14 Jahre gehalten hat. Zu ihrem Ableben trat neben den Fehlentscheidungen Papens und Schleichers auch die tradierte Milde gegenüber rechtsextremen Tätern in der Justiz, die Abschaffung des Republikschutzgesetzes – und die Reaktion der Wähler auf die sich ändern Umstände. Die erste Phase war wirtschaftlich insbesondere von der Hyperinflation geprägt, die Ausmaße annahm, die selbst die zeitgenössischen Dadaisten für zu albern befunden hätten. Und zwischen 1928 und 1932 vervierfacht sich die Arbeitslosenzahl beinahe, die Kaufkraft sinkt um ein Drittel. Das genügt freilich nicht, um Regressionsanalysen zu betreiben, stellt aber deutlich dar, wie massiv die Rahmenbedingungen jene begünstigten, die grundsätzlich Besseres versprachen – den Antidemokraten von KPD, DNVP und NSDAP.
Das Problem ist in der Bundesrepublik durch das Verbot verfassungsfeindlicher Parteien gelöst, auch wenn dieses letzte Mittel bisher erst zweimal zum Einsatz kam und sehr spärlich gebraucht wird.
Es spricht auch wenig für die Überlegung, dass die NSDAP ihren kleinen Haufen Abgeordnete im Reichstag 1928 als Basis für den Aufstieg nutzten und dank Fünf-Prozent-Hürde dieser Möglichkeit beraubt worden waren. Stattdessen war es das wegfallende oder nicht umgesetzte Republikschutzgesetz, das den Nationalsozialisten den Weg von der Straße in die Parlamente erlaubte. Die Bekanntheit der NSDAP-Führung sprang zudem sprunghaft mit dem für Nationalisten und Völkische bedeutsamen Referendum über den Young-Plan 1929 an, den Verleger Hugenberg in seinen Zeitungen ausbreitete. Und auch der Aufstieg in den einzelnen Ländern ist nicht einer kleinen Gruppe von Mandaten zu verdanken, die sich gut profilierten und so weiter an Zustimmung gewannen. Umgekehrt nutzte die NSDAP während der späten Jahre ihre Wiedererstarkung, um das Parlament und seine Funktionsträger immer wieder bloßzustellen, indem sie etwa gegen das Unifromverbot verstießen oder Göring Reichskanzler Papen übersah.
Fazit
Quorenregelungen machen Wahlabende spannender, Tortendiagramme übersichtlicher und bündeln vorhandene politische Kräfte. Ihr Nichtvorhandensein hatte in der Gesamtbetrachtung bestenfalls eine minimale Auswirkung, die weit hinter den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, politischen Handlungen und den eigentlichen Wahlergebnissen anzusiedeln ist.
Was tatsächlich einer weiteren Untersuchung bedürfte, wären die Auswirkungen in einzelnen Landtagen. Zwar zog die NSDAP auch hier zunehmend fulminant ein, allerdings kann es sein, dass sich lokal Pattsituationen gehäuft hatten.