Was wäre, wenn? Weimarer Republik mit Fünfprozenthürde (1): Die Nationalversammlung 1919

Politik

Die Einrichtung der „Bonner Republik“ ab 1949 war, abseits aller Reboot- und 2.0-Metaphern, ein Versuch, Demokratie in Deutschland funktionierend zu etablieren, wobei „funktionierend“ dabei zwei Kernanliegen entsprach:

  • das Heraushalten von Parteien, die der Idee der Republik im Abstrakten wie im Konkreten feindlich gegenüber stehen; das manifestierte sich im Verbot von KPD und Deutscher Reichspartei bzw. von vornherein einer Nichterteilung von Lizenzen für entsprechende Vereinigungen
  • die Förderung von realistisch koalitionsfähigen Parlamenten und eine Vermeidung der Zersplitterung durch Einführung einer Sperrklausel, die bekannte Fünfprozenthürde (Ausnahmen bestehen lediglich für nationale Minderheiten oder bei hinreichend starkem regionalen Schwerpunkten über Direktmandate); in Teilen zudem die Verteilung einiger Mandate über Mehrheits- statt Verhältniswahlrecht

Wie genau hätten sich diese Maßnahmen in der Weimarer Republik, der „demokratischsten Demokratie der Welt“ (Eduard David)  abgespielt? Der erste Strichpunkt, eine NSDAP-freie Republik, ist müßig, aber spannend fand ich, einmal nachzuschauen, wie entsprechende Maßnahmen zur Zersplitterungsverhinderung sich ausgewirkt hätten.

Hintergrund: Wahlsystem und Koalitionen in Weimar

Die republiktreuesten Parteien der Weimarer Republik waren SPD, das katholische Zentrum und die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP). Mit ein paar Abstrichen lässt sich noch die Stresemann’sche Deutsche Volkspartei sowie die Bayerische Volkspartei (BVP, und richtig, CSU-Analogien sind nicht völlig unberechtigt) dazu zählen.

Vereinfacht gesagt galt in der Weimarer Republik (hier die Komplettfassung für 1918): 60.000 Stimmen in einer Region entsprechen einem Abgeordnetenmandat, wobei Reststimmen jeweils auf höherer Ebene weiterverwertet wurden. Einige Details zur Listenaufstellungen und Reststimmenauswertung hatten zwar Verschiebungen des Gleichgewichts zur Folge und begünstigten etwa bei reichsweit gleicher niedriger Stimmenanzahl regional besonders starke Gruppierungen, aber im Wesentlichen bestand dieses System bis 1933.

Die Frage ist also: Wenn wir die gleichen Stimmverhältnisse annehmen wie sie in den tatsächlichen Reichstagswahlen stattfanden, hätte ein anderen System zur Mandatsverteilung die Koalitionsfähigkeit im Parlament erhöht? WIr nehmen dafür nachfolgend einfach eine Fünfprozenthürde auf Reichsebene an und sehen, welche Konstellationen sich dann im Reichstag ergeben hätten.

Die Wahl zur ersten Nationalversammlung 1919

Die Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung des Deutschen Reiches (die unter anderem über genau diesen Namen diskutierte) erfolgte am 19. Januar des Jahres und war für die Parteien der Weimarer Koalition ein sicheres Mandat, wie die nachfolgende Infografik Abbildung zeigt:

Wahlen zur Nationalversammlung 1919 - Ergebnis sowie tatsächliche und quorenabhängige Sitzverteilungen. Zum Vergrößern klicken.

Wahlen zur Nationalversammlung 1919 – Ergebnis sowie tatsächliche und quorenabhängige Sitzverteilungen. Zum Vergrößern klicken.

Ein zunächst erfreuliches Resultat: SPD und jeweils DDP oder Zentrum hätten schon eine Mehrheit in der Nationalversammlung gehabt. Zusammen kommt das Parteientrio auf mehr als Zwei Drittel aller Stimmen wie Sitze und kann so Friedrichs Ebert zum Reichspräsidenten wählen und komfortabel überwiegend gemäßigte Verfassungsideen einbringen.

Auf das Damoklesschwert der Weimarer Republik, die Akzeptanz des Versailler Vertrages, haben sie aber keinen Einfluss. Noch ohne viel Einfluss, aber immerhin mit genügend Potenzial für bedrückte Tonfälle in den ARD-Landtagswahlsstudios sind die Räterepublikfreunde der USPD sowie die Monarchiefans (und Antisemiten) der DNVP.

Was wäre, wenn?

Eine hypothetische Fünfprozenthürde hätte von den bekannteren Parteien für die DVP ein Problem dargestellt, allerdings ist natürlich auch möglich, dass viele Anhänger Bürgertums dann nicht taktisch DDP gewählt hatten. Die Bayerische Volkspartei trat zu dieser Wahl noch als regionaler Arm des Zentrums auf, zudem war sie in allen bayerischen Reichswahlkreisen stärkste Kraft. Für die grundsätzliche Handlungsfähigkeit der Versammlung sowie Koalitionsmöglichkeiten hätte all das keinen Unterschied gemacht, auch die grundsätzlichen Republikgegner waren hinreichend sicher im Parlament.

Einzelne Entscheidungen der Nationalversammlung allerdings lohnen einer Betrachtung:

  • Die Schicksalsstunde des Parlaments, die Annahme und Ratifizierung des Versailler Vertrages, erfolgte mit den Stimmen von USPD, SPD (bis auf einen Abgeordneten) und Zentrum (bis auf 9 Abgeordnete) sowie 7 DDP-Abgeordneten. Das hätte auch bei einer veränderten Sitzverteilung in jedem Fall ausgereicht.
  • Die Bestätigung des neuen Reichskanzlers Gustav Bauer nach dem Rücktritt Philipp Scheidemanns erfolgte nur durch SPD und Zentrum, die Mehrheit hätte in jedem Fall gereicht.
  • Bei einigen Fragen standen sich nicht Republikfreunde und -gegner, sondern Arbeiter- und Bürgerparteien gegenüber, hier setzte sich nahezu immer der Bürgerblock durch. Ohne die Benachteiligung der USPD und ohne die DVP-Fraktion wäre dessen Mehrheit allerdings deutlich knapper gewesen und einzelne Abgeordnete (etwa der DDP, die sich allerdings im Wahlkampf deutlich von der SPD abgesetzt hatte) hätten hier einen Ausschlag geben können. Das hätte insbesondere die Fragen betroffen,
    • ob die Weimarer Republik „Deutsches Reich“ oder „Deutsche Republik“ heisst,
    • ob es eine vollumfängliche oder nur eine „grundsätzliche“ Gleichberechtigung von Frauen und Männer geben sollte,
    • ob uneheliche geborenen Kinder mit ehelich geborenen gleichgestellt werden sollten, (Richtig: „Angriff auf die Familie!“ wurde von rechts gerufen)
    • ob es eine statt konfessioneller und privater Jugendfürsorge staatliche geben sollte.

Zusammenfassung: Keine nennenswerten Änderungen

Es mag trügerisch gewesen sein, aber zur Handlungsfähigkeit reichte das Mandat der Weimarer Koalition auf jeden Fall. Weder Änderungen an Proporzregelungen noch die Einführung einer Fünfprozenthürde am Modell ändern etwas am grundsätzlichen Votum für die Reichsbanner-Parteien oder an der grundsätzlichen (leichten) Unterlegenheit der Arbeiterparteien.

Und schon gar kein Modell beseitigt das grundsätzliche Problem: Der anzunehmende Friedensvertrag und die Dolchstoßlegende. Bis zur nächsten Reichstagswahl 1920 keine achtzehn Monate später war noch eine weitere Reichsregierung ernannt worden (Kabinett Müller) sowie der Kapp-Putsch nur knapp abgewendet.

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