Was wäre, wenn? Weimarer Republik mit Fünfprozenthürde (2): Reichstagswahl 1920

Politik

Im Zweiten Beitrag der Reihe zu möglichen alternativhistorischen Sitzverteilungen und Handlungsoptionen im Reichstag der Weimar Republik fällt der Blick auf die Reichstagswahl 1920 – die erste Wahl nach der Nationalversammlung – sowie die beiden Urnengänge des Jahres 1924.

Da Minderheitsregierungen ab nun häufiger treten, sei an eine Besonderheit der Verfassung erinnert: Der Reichspräsident, nicht der Reichstag, ernannte den Reichskanzler. Das Parlament konnte dem Regierungsoberhaupt allerdings das Misstrauen aussprechen. Diese Konstellation begünstigte tolerierte Minderheitsregierungen erheblich.

Reichstagswahl 1920

Aufgrund des Kapp-Putsches erfolgte die Reichstagswahl vor dem ursprünglich vorgesehenen Zeitpunkt. Die Weimarer Koalition hatte (mit einer kurzen Pause bei der DDP) die Kabinette seit 1919 gestellt und sowohl mit der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles als auch mit dem Kapp-Putsch zu kämpfen. Im Ergebnis schrank Ihre Unterstützung erheblich, wie die nachfolgende Grafik illustriert. Im Gegensatz zur vorherigen Wahl trat die Bayerische Volkspartei (BVP) nicht zusammen mit der Zentrumspartei an, sondern konkurrierte mit ihr, deswegen zählen sie getrennt.

Reichstagswahl 1920

Die Ergebnisse der Reichstagswahl 1920 und tatsächliche wie alternative SItzverteilungen und die sich daraus ergebenden Mehrheiten. Zum Vergrößern klicken.

Ebenfalls ersichtlich: Der Weimarer Koalition wäre auch mit Quoren kaumgeholfen, weil sie schlichtweg deutlich weniger als 50% der Stimmen erzielt hatten. Die Situation nach der Wahl gestaltete sich vergleichsweise vertrackt, da ohne Hinzubeziehung einer republikkritischen Partei (die DVP war trotz des späteren Nobelpreisträgers Stresemann war) keine tragfähige Mehrheit zustande kam.

Sieben Kabinette in einer Legislaturperiode

Bis zur nächsten Reichstagswahl 1924 sollten insgesamt sieben (ja, sieben!) Kabinette gebildet werden, oft mit unterschiedlicher Parteibesetzung. Die in den nachfolgenden Text eingebauten Links führen übrigens zu zeitgenössischen Artikeln der Vossischen Zeitung – sich ein wenig durchzuklicken, gibt einen hervorragenden Einblick in die Unsicherheit und den Dauerkrisenmodus der Jahre.

  • Das Kabinett Fehrenbach bildete sich zunächst nach der Wahl aus Zentrum, DDP und DVP. Ein Blick auf das oberste Tortendiagramm sagt: Hoppla, bei Weitem keine Mehrheit. Deswegen war die Tolerierung durch die SPD entscheidend. Zum Rücktritt der Regierung kam es durch das Londoner Ultimatum, das die DVP nicht mittragen wollte.
  • Darauf folgte die „Wiederkehr der alten Koalition“, das Kabinett von Joseph Wirth aus Politikern von Zentrum (ohne BVP), DDP und SPD. Auch hier handelt es sich um eine Minderheitsregierung, die situativ auf die Unterstützung von DVP und USPD baute. Zum Rücktritt dieser Regierung kam es nach der Volksabstimmung in Oberschlesien, nach der rohstoffreiche Teil der Provinz an Polen ging.
  • Darauf bat Reichspräsident Friedrich Ebert Joseph Wirth in dem, was heute als offener Brief durchgeht, um eine erneute Kabinettsbildung, mit veränderten Personal-, aber unveränderten Parteikonfigurationen. Aus heutiger Sicht außenpolitische Erfolge wie die Teilnahme an der Weltwirtschaftskonferenz zusammen mit Walter Rathenau sowie die völkerrechtliche Anerkennung der späteren Sowjetunion mäßigten den Tonfall insbesondere der DNVP aber nicht. Wirth versuchte im November 1922, eine große Koalition unter Hinzunahme der DVP zu bilden – das misslang, worauf das Kabinett zurücktrat.
  • Es folgte mit Reichskanzler Wilhelm Cuno (selbst parteilos) ein erneutes Minderheitenkabinett mit der aus dem ersten Spiegelstrich bekannten Konfiguration. Sein Rücktrittsgrund neun Monate später war die massive Inflation sowie die Folgen der Ruhrbesetzung; im Rahmen der Regierungsumbildung stellte die SPD Bedingungen – und stimmte schließlich für eine Koaltion mit der DVP.
  • Gustav Stresemann also führte eine vergleichsweise große Koalition aus SPD, DVP, DDP und Zentrum an – die bis jetzt einzige mit echter parlamentarischer Mehrheit.
  • Und nochmal Stresemann: Aus den Reihen der DVP kam angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Forderung nach, wie es heute hieße, flexibleren Arbeitszeiten und einem, leider fehlt ein gescheiter Alternativbegriff, Ermächtigungsgesetz für die Regierungskoalition. Insbesondere erstem wollte die SPD nicht zustimmen und verließ die Regierung – Friedrich Ebert beauftragte ihn dennoch mit der Bildung eines neuen Kabinetts. Die SPD gehörte dem Kabinett nur noch tolerierend an, die Arbeitszeitfrage wurde aus der Gesetzvorlage ausgeklammert. In die Zeit dieses Kabinetts fiel auch der gescheiterte Hitler-Putsch.
  • Stresemann gelang die Einführung der Rentenmark und Annäherungen mit Frankreich in der Reparationsfrage. Der fortdauernde Belagerungszustand in Bayern und Sachsen jedoch nahm die SPD zum Anlass, einen Misstrauensantrag zu stellen, den Stresemann mit einer Vertrauensfrage beantwortete – und deutlich verlor. Wir schließen folglich mit Wilhelm Marx‘ erstem Kabinett, einer Koalition von Zentrum, DDP, DVP und BVP unter Tolerierung der SPD und Stresemann als Außenminister.

Warum diese Aufzählung? Weil ich aufzeigen möchte, dass ein Teil der Rückblicke nicht der Zersplitterung der Parteienlandschaft geschuldet war, sondern schlichtweg massiven äußeren Einflüssen, die jede Regierungskonstellation schwer belasten würden. Als Stresemann den (eben nicht konstruktiven) SPD-Misstrauensantrag mit einer Vertrauensfrage beantwortete, nutzte er bewusst eindeutlich radikaleres Instrument.

Dennoch ist richtig, dass sich insbesondere durch die späteren Kabinette oft das Problem der politischen Bandbreite zog: Eine echte Mehrheit hieß eben fünf Parteien von SPD bis DVP, und das strapaziert auch die kompromissfähigsten Abgeordneten. Theoretisch hätte eine Fünfprozentklausel, die gleichzeitig die BVP aufgrund ihrer regionalen Stärke unberücksichtigt lässt, hier womöglich Abhilfe geschaffen, weil DVP-lose Koalitionen möglich gewesen wären. Ob dies angesichts der Dauerkrise größere Stabilität gebracht hätte oder ob die deutlich konservativere BVP und die SPD sich einfach nur häufiger in die Haare bekommen hätten, ist pure Spekulation.

Es bleibt festzuhalten, dass ein Großteil der Zersplliterung und Regierungsbildungsunfähigkeit des Parlament schlichtweg im Wahlergebnis begründet ist:

  • 7 Parteien hatten entweder die Fünfzprozenthürde überschritten oder waren in mindestens drei Wahlkreisen stärkste Kraft
  • Zweit- und drittstärkste Parteien waren klar republikfeindliche Kräfte
  • Weder eine gemäßigte bürgerliche noch eine klassische Weimarer Koaltionen hatten auch nur annähernd die Mehrheit der Stimmen

Fazit: Schwierige Ausgangslage innen wie außen

Das Wahlergebnis der Reichstagswahl 1920 zeigt deutlich ein sehr heterogenes Bild der Gesellschaft, in dem jeweils ein knappes Fünftel der Stimmen auf Monarchisten und Sozialisten/Kommunisten entfiel, die vorherigen Träger der Republik deutlich weniger Vertrauen enthielten. In der Tat ist die große Zahl der Fraktionen und zur Mehrheitsbeschaffung notwendige politische Spannweite ein Problem.

Nur kann man als Erklärung eben nicht sagen, dass hier kleinen Splittergruppen am Werk waren: Keine einzige Partei erhielt auch nur 25 Prozent der Stimmen, aber eben jede Menge Gruppierungen eine erhebliche Zahl. Das Wahlsystem ist hier als letzter Schuldiger zu suchen.

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