Wie Hartz IV zu dem wurde, was es ist

Politik

„Was sind denn bitte moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt? Startups? Tattoostudios?“ möge sich denken, wer den formalen Titel jener Gesetze liest, die gemeinhin als „Hartz“ zusammengefasst werden. Ebenfalls ein plausibler Gedanke: dass das Gesetzpaket und alles, wofür es mithin kritisiert wird, auf die Regierung Schröder und somit natürlich auf die SPD zurückzuführen ist.

Im Kern stimmt das natürlich. Die GfmDaA I bis IV beruhen auf Vorschlägen der Hartz-Kommission, und diese wiederum wurde eben initiativ von der Bundesregierung Schröder als Folge des Vermittlungsskandals einberufen. Der Wesenskern von Hartz IV, nämlich die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in einer weitgehend pauschalen Leistung, das war schon in der Ursprungsfassung enthalten. Doch das ist nicht alles: Hartz IV ist bekannt für strenge Sanktionen, für bizarr berechnete Beiträgshöhen, für die explizite Förderung des Niedriglohnsektors ebenso wie für das harte Anrechnen von bestehenden Geld- und Sachwerten. Was davon geht bereits auf das Ursprungswerk der rot-grünen Bundesregierung zurück – und was davon kam zurück durch den Vermittlungsausschuss, der angerufen wurde, weil im Sommer 2003 Union und FDP eine solide Bundesratsmehrheit hatten?

Die Bundestagswahl 2002

Im Jahr 2002 verharrte das Ursprungsthema, mit dem Gerhard Schröder einst Bundeskanzler geworden war – der Kampf gegen die „Geißel der Massenarbeitslosigkeit“ jedoch auf einem unverändert frustrierenden Problemstand.

Alle Parteien erklärten die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur zentralen Herausforderung ihrer Kampagnen; alle Parteien, die in Fraktionsstärke in den Bundestag einzogen (also nicht die damalige PDS), erwähnten in ihren Programmen Elemente der späteren Hartz-Gesetzgebung in unterschiedlicher Ausprägung. Ein Detailblick auf die einzelnen Wahlmanifestos:

ASPEKT VON GFMDAA IV Vorschlag der Hartz-Kommission (LINK) SPD-Programm(LINK, PDF) Grüne-Programm(LINK) Unionsprogramm(LINK) FDP-Programm(LINK)
Begrenzung Bezugsdauer Arbeitslosengeld (Keine Erwähnung) (Keine Erwähnung) (Keine Erwähnung) (Keine Erwähnung) „Beim Arbeitslosengeld muss die Anspruchsdauer wieder auf 12 Monate festgesetzt werden, um den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen.“
Zusammenlegung Arbeitslosen- und Sozialhilfe  „Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe: […] Das Arbeitslosengeld II ist eine steuerfinanzierte bedürftigkeitsabhängige Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts der arbeitslosen erwerbsfähigen Personen im Anschluss an den Bezug von oder bei Nichterfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld I.“ „Die Verzahnung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Arbeitslose ermöglicht konzentrierte Bemühungen im Interesse der Langzeitarbeitslosen für eine bessere, schnellere Vermittlung in Beschäftigung.“ „Der Einstieg in eine soziale Grundsicherung ist eines unserer zentralen Reformprojekte für die nächsten vier Jahre. Wir wollen die soziale Teilhabe von sozial schwachen Bürgerinnen und Bürgern spürbar verbessern. Dafür sollen die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe an einer Stelle zusammengeführt werden.“ „Ein wesentlicher konzeptioneller Schritt zu einer solchen neuen Kultur des Förderns und Forderns besteht in der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.“ „Als erster Schritt zum Bürgergeld muss die Arbeitslosenhilfe vollständig mit der Sozialhilfe zu einem System mit einer Leistung, mit klaren Zuständigkeiten, eingleisigen Verfahren und schlankerer Verwaltung zusammengefasst werden.“
Höhe der neuen Leistung (Keine Erwähnung) „Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau.“ (Keine konkrete Angabe zur Höhe.) (Keine konkrete Angabe zur Höhe.) (Keine Angabe zur Höhe im Wahlprogramm. Passagen sprechen allerdings vom Sozialhilfeempfänger, was eine Zugrundelegung dieser Leistung nahe legt.)
Sanktionierung, Zwang zur Arbeitsaufnahme „Die Zumutbarkeit wird nach geografischen, materiellen, funktionalen Kriterien und sozialen Kriterien neu formuliert und in Verbindung mit Freiwilligkeit und Pflichten konsequent umgesetzt. […] Lehnt die arbeitslose Person eine Beschäftigung ab, so muss sie beweisen, dass die abgelehnte Beschäftigung unzumutbar war. […] Sperrzeiten können zukünftig „dosierter“ eingesetzt werden. Hierfür werden nach verschiedenen Sperrzeittatbeständen differenzierte Regelungen geschaffen.“ „Die Vermittlung erwerbsloser Sozialhilfeempfänger in den ersten Arbeitsmarkt muss verbessert und die Eigenverantwortung der Unterstützungsempfänger muss mobilisiert werden. Wir entwickeln die Sozialhilfe zu einer aktivierenden, fallbezogenen Dienstleistung. Dabei steht das sozialstaatliche Existenzminimum selbstverständlich nicht zur Disposition.
… Der Sozialstaat muss auch in diesem Bereich das Prinzip „Fördern und Fordern“ konsequent umsetzen und die Betroffenen als wichtige Partner bei der sozialen Integration ernst nehmen.“
„Wir wollen die individuellen Eingliederungspläne mit den Arbeitssuchenden nach dem Konzept Fördern und Fordern ausbauen.““Arbeitsuchende sollen die kostenlose Wahlfreiheit zwischen privaten und staatlichen Vermittlern sowie ein Beschwerderecht bekommen. Im Gegenzug sollen sie zur Teilnahme an den Angeboten verpflichtet werden.“ „Wir halten es für zumutbar, dass der arbeitsfähige Empfänger von Sozialtransfers zuerst nachprüfbar zeigt, dass er sich wirklich ernsthaft um Arbeit bemüht hat. Für erwerbsfähige Arbeitslosen- und Sozialhilfebezieher werden wir die finanzielle Unterstützung an die Pflicht binden, an Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen, sich auf andere Weise für eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu qualifizieren oder gemeinnützige Arbeit zu leisten.“ „Jeder Arbeitslose sollte verpflichtet sein, mit seinem Arbeitsamt laufenden Kontakt zu halten, denn nur so wird seine intensive und effektive Vermittlung und Betreuung durch das Arbeitsamt gewährleistet.““Die vorhandenen Sanktionsmechanismen müssen in Zukunft straffer und stärker angewandt werden. Bisher muss das Sozialamt beweisen, dass ein Sozialhilfeempfänger entgegen seiner Behauptung arbeitsfähig ist. Dies will die FDP ändern: In Zukunft muss der Sozialhilfeempfänger darlegen, dass er nicht arbeitsfähig ist. Der Staat ist gehalten, über einen Fallmanager geeignete Angebote zu machen.Nur bei einem solchen Nachweis eigener Bemühungen zur Aufnahme von Arbeit besteht der Anspruch auf Leistungen, die über das materielle Existenzminimum hinaus für die Eingliederung des Bedürftigen in die Gesellschaft erforderlich sind. Ansonsten erfolgt eine Kürzung der Geldleistungen auf das materielle Existenzminimum, also die Existenz sichernden Leistungen wie Ernährung, Unterkunft, Kleidung und Hausrat.“
Zuständigkeit Bundesagentur für Arbeit/Kommunen „Da die Aufgaben der [BA-neu] verstärkt den Charakter von Zukunftsinvestitionen
oder auch sozialpolitischen Charakter besitzen, muss die Finanzierung auf eine breitere Basis gestellt werden. Beitragsmittel müssen durch einen geregelten Bundeszuschuss
und durch angemessene Beteiligung von Ländern und Kommunen ergänzt werden.“
(Verweis auf zu erwartende Empfehlungen der Hartz-Kommission zur Reform der Bundesanstalt für Arbeit, Verweis auf Gemeindefinanzreform angesichts möglicher Kostensteigerungen für von Kommunen getragene Leistung.) (Keine explizite Aussage, es ist aber von  „Entbürokratisierung und Dezentralisierung der Arbeitsverwaltung“ die Rede.) „Die bisherigen Verschiebeaktionen zwischen den Kommunen als Trägern der Sozialhilfe und den für die Arbeitslosenhilfe zuständigen Arbeitsämtern müssen vermieden werden. Deshalb sollen Arbeits- und Sozialämter in den neuen Job-Centern zusammenarbeiten, um eine flexible Förderung aus einer Hand zu ermöglichen. So können wir die Kompetenz der Kommunen auf den lokalen Arbeitsmärkten besser nutzen. … Die Bundesanstalt für Arbeit wird dezentralisiert und gestrafft, in den Arbeitsämtern die Kernaufgabe Arbeitsvermittlung gestärkt…“ (Keine explizite Aussage, es ist aber von „eingleisigen Verfahren und schlankerer Verwaltung“ die Rede.)

Bemerkenswert: Die SPD und besonders die FDP benutzen den Begriff Existenzminimum, der im Zusammenhang mit der bisherigen Arbeitslosenhilfe eine Absenkung bedeuten würde, da die Arbeitslosenhilfe auf die Ausrichtung eines individuellen Lebensstandards zielt, während Sozialhilfe eben lediglich ein Existenzminimum sichern soll, obwohl beides Fürsorge-Leistungen sind.

Schröder und Stoiber im Fernsehen

Ich habe leider weder eine Videoaufzeichnung noch ein Transkript des ersten Fernsehduells zwischen Schröder und Stoiber finden können und kann daher nicht sagen, inwieweit hier konkrete Schritte diskutiert wurden. Ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen zitiert Stoiber mit der wiederholten Kritik daran, dass die Hartz-Konzepte allein nicht reichen würden, nicht strukturell die Probleme der Bundesrepublik lösten. Ähnliches hatten auch schon Lothar Späth und andere Unionswahlkämpfende erklärt.

In der zweiten Ausgabe – eine fast vollständige Aufzeichnung hier – wird die Grundsicherung zwar einmal erwähnt (Wortlaut [PDF]):

„Denn vieles von dem, was in dem Bericht dieser Kommission drinsteht, ist bereits auf den Weg gebracht. Nicht in der Breite. Nicht in der Konsequenz. Das muss nachgearbeitet werden. Wird auch in der nächsten Legislaturperiode das wirklich große Reformprojekt werden, das wir schultern.“

Konkreter bei den einzelnen Maßnahmen allerdings wird es nicht.

Während der Fernsehwerbespot der Union sich mit konkreten Ankündigungen zurückhält, fehlt im Spot der SPD eigentlich nur noch der konkrete Name des Gesetzes.

Wörtlich sagt Schröder: „Wir werden die mutigste Arbeitsmarktreform machen, die es bisher in Deutschland gegeben hat. Die entsprechenden Vorschläge liegen auf dem Tisch, wir beginnen unmittelbar mit der Umsetzung. Das entscheidende aber ist: Nur mit uns, mit der SPD, wird es bei diesen Herausforderungen menschlich und sozial zugehen.“

Rot-Grün wurde am 22. September 2002 knapp wiedergewählt. Am 14. März des Folgejahres gab Gerhard Schröder die Regierungserklärung „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung [PDF] “ im Bundestag ab, die sich zum Einen mit der Lage im Irak auseinandersetzte, zum Anderen aber auch die Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ankündigte. Die Rede und die Gegenreden sind im Protokoll verfügbar und allein aufgrund der Einwürfe Volker Kauders durchaus eine amüsante Lektüre. Eine komplette Analyse allein dieser Rede wäre ein tolstoieskes Unterfangen, daher belasse ich es bei einigen wichtigen Passagen:

„Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“

„Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen“

„Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird.“ (Hervorhebung im Original.)

Es folgte ein reger Schlagabtausch aller hochrangigen Regierungs- und Oppositionsfiguren. Angela Merkel etwa entgegnete unter Anderem:

„Deshalb, Herr Bundeskanzler, sind wir mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe einverstanden. Sie haben sich etwas verklausuliert ausgedrückt, als Sie sagten, dass dies „in der Regel“ auf dem Niveau der Sozialhilfe erfolgen solle. Wir sagen: Es soll auf dem Sozialhilfeniveau erfolgen. Wir sagen des Weiteren, dass denjenigen, die eine bestimmte Arbeit, die ihnen angeboten wird, nicht annehmen, die Sozialhilfe um 25 Prozent gekürzt werden soll.“

Wesentliche Bestandteile der späteren Arbeitslosengeld-II-Gestaltung waren zu diesem Zeitpunkt also scheinbar schon beschlussreif. Sie greifen in der Tat in weiten Teilen die Vorschläge der Hartz-Kommission auf, werden aber ergänzt von Ideen aus dem Wahlprogramm. Dem der FDP.

Zum genauen Einfluss der Höhe hat zum Beispiel das Sozialforum Dortmund etliche Beispielrechnungen durchgeführt, die für viele (aber nicht alle) Ex-Durchschnittsverdienende Einkommensverluste zwischen Arbeitslosenhilfe und -geld-II ergibt. Laut dem Arbeitsmarktbericht 2004 der damaligen Bundesagentur für Arbeit (PDF, Seite 77 ) betrug die durchschnittliche Höhe von Arbeitslosenhilfe in den Alten Bundesländern zuletzt 583, in den Neuen Ländern 516 Euro, wobei hier je nach Lage auch Wohngeld hinzukommen kann.

Nach der Regierungserklärung – der Weg zum Vermittlungsausschuss

Eine echte eigene Mehrheit besaß Rot-Grün im Bundesrat bereits seit der Landtagswahl in Hessen 1999 nicht mehr. Allerdings war es in den Vorjahren mit etwas Geschick möglich, die neutralen Länder bei Projekten wie der ersten Steuerreform einzuspannen. Doch auch der Handlungsspielraum dazu wurde immer enger, und spätestens mit der krachenden Niederlage Sigmar Gabriels in Niedersachsen im Februar 2003 stand Rot-Grün vor einer Wand. Gerade noch zwei Regierungen stellte die eigene Farbpalette, und selbst ohne das bizarre PRO-Anhängsel in Hamburg kam Schwarz-Gelb auf 38 Sitze. Ohne den Vermittlungsausschuss war die Agenda 2010 und mithin auch die GfmDaA nicht voranzubringen. Aber (an dieser Stelle bitte einen Kameraschwenk und fragende Musik denken) was würden Union und FDP mit ihrer Macht an der Gesetzesvorlage ändern?

Der Bundesrat nach den Landtagswahlen am 2. Februar 2003

CDU, CSU und FDP verfügten im Bundesrat über eine Mehrheit, mit der sie bequem den Vermittlungsausschuss anrufen konnten.

Im Juni bestätigte ein Sonderparteitag der SPD den Kurs der Agenda 2010. Am 15. August 2003 schickte das Bundeskanzleramt den ersten Entwurf des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt an den Bundesrat (Drucksache 558/03 [PDF]), während der Bundestag die gleiche Fassung am 5. September beriet. Die entsprechenden Pfade sind vom Dokumentations- und Informationssystem des Bundestages auch entsprechend dokumentiert [1, 2]. Wissenschon, tolstoiesk.

In der Folgezeit spielte das Geschehen auf zwei Bühnen:

  1. der Text selbst erfuhr etliche Überarbeitungen. Rein textuell am umfangreichsten waren dabei jene innerhalb des Bundestages, wo der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zahlreiche Änderungen (Übersicht in der Beschussempfehlung [PDF]) einführte, was praktischerweise dazu führt, dass die Drucksache 15/1516 sich auf zwei verschiedene Fassungen der Gesetzgebung beziehen kann.
  2. die Union in der Opposition nutzte den Bundesrat und alle Register der Öffentlichkeitsarbeit, um die Initiative als unzureichend und die eigenen Konzepte als überlegen zu präsentieren. Wortführer war dabei Roland Koch – Hessen brachte als Alternative das eigene Existenzgrundlagengesetz in den Bundesrat ein, der damalige hessische Ministerpräsident schrieb Gastartikel und schien sich als Kanzlerkandidat 2006 in Stellung bringen zu wollen.

Der Bundesrat (also die Union) ist in seiner Sprache dabei energischer, als die tatsächlichen inhaltlichen Unterschiede rechtfertigen. So heißt es in einer Stellungnahme (Drucksache 558/03 Beschluss [PDF]):

„Der Bundesrat lehnt jedoch den Entwurf eines Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ab, da dieser – auch im Zusammenhang mit den begleitenden Gesetzentwürfen der Bundesregierung – nur eine unzureichende Veränderung des bestehenden Sozial- und Arbeitslosenhilfesystems darstellt und nicht in der Lage ist, die bestehenden strukturellen Verkrustungen aufzubrechen.“

Was folgt, ist aber nicht etwa eine Kritik an Betreuungs- oder Sanktionsmechanismen, sondern primär eine Darstellung, inwiefern Länder und Kommunen durch das Gesetz belastet werden und wie das geändert werden könnte (lies: Hessisches Existenzgrundlagengesetz).

Das ist insofern beinahe plausibel, als dass der Bundesrat ja dazu bestimmt ist, die Interessen der Länder als solche zu vertreten, und folglich inhaltliche Aspekte einer Gesetzgebung, die die Länder nicht betreffen, nicht kommentieren muss. Allerdings ist diese Interpretation zuwenigst gutgläubig – ein die Länder betreffendes Gesetz wird im Bundesrat insgesamt abgestimmt, also können auch zum Beispiel Sanktionsfragen erneut besprochen werden, zumal sich immer eine Länderbetroffenheit argumentieren lässt.

Indes produzierten die Verfassungsorgane weiter Papier. Die Bundesregierung antwortete dem Bundesrat am 26. September, der Bundestag beschloss am 17. Oktober das Gesetz, und der Bundesrat beschloss am 7. November, den Vermittlungsausschuss anzurufen (Drucksache 731/03 Beschluss [PDF]). Am 19. Dezember schließlich war es soweit: das Gesetz wurde von beiden Parlamentskammern beschlossen und am 29. Dezember ins Gesetzblatt aufgenommen. Auch wenn ich mich hier auf ein Gesetz beschränke: zum Jahresende 2003 ging es politisch allgemein hoch her, in der Presse wurde meistens von einer großen Steuer- und Arbeitsmarktreform gesprochen.

Die Frage, mit der ich diesen Artikel startete: Was für Änderungen kamen tatsächlich im Verlaufe dieses (hier grob vereinfachten) Verfahrens hinzu, speziell im Hinblick auf Arbeitslosengeld II? Zu diesem Zweck hab ich einmal eine Vergleichsversion von der ursprünglichen und der finalen Fassung des Zweiten Sozialgesetzbuches (SGB II) erstellt, weil sich hierin der wesentliche Teil der Arbeitslosengeld-II-Instrumente befindet. (Selbstredend geht das GfmDaA weit über das SGB II hinaus.)

Das Ergebnis dieses Anfang-zu-Ergebnis-Vergleichs habe ich als Google-Docs- und als Word-Dokument hochgeladen. Leider geht sowohl beim Einbetten als auch beim Ansehen der öffentlichen Versionen die versionierte Ansicht verloren, so dass Sie die Dokumente ggf. runterladen müssen. Die gute Nachricht: bei Diffnow sind die Unterschiede sichtbar und sogar ein Report mit den Unterschieden verfügbar. Eine kleine Vorschau:

Die Analyse aller Änderungen ist ernüchternd; alle eingangs erwähnten Wesensmerkmale fanden sich bereits von Anfang im Gesetzestext:

  • die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes
  • die Höhe von damals 331 bzw. 345 Euro bleibt von Anfang an unangetastet – und widerspricht explizit dem SPD-Wahlprogramm.
  • Sanktionen bei der Ablehnung zumutbarer Arbeit sowie anderen als unkooperativ empfundenen Aktionen – hier ist bereits von Anfang von 30 Prozent die Rede, womit Angela Merkels Vorschlag noch unterboten wird
  • die Anrechnung von bestehendem Besitz wird ergänzt um einige Spezialfälle für private Altersvorsorge und Anschaffung/Wartung von Immobilien bei pflegebedürftigen Menschen
  • die Mehrbedarfe bei der Alleinerziehung von Kindern werden sogar geringfügig erhöht

Verschärfungen aus Sicht von Betroffenen sind kaum zu finden:

  • Abzüge für Zuverdienst werden in der Ursprungsfassung anhand der Größe der Bedarfsgemeinschaft festgelegt, in der Beschlussversion ist der Verdienst selbst entscheidend
  • tatsächlich werden einige Extra-Ausgaben wie zum Beispiel Klassenfahrten in der Ursprungsfassung nicht erwähnt

Ein Großteil der Änderungen betrifft neben puren Formulierungsfragen die Frage der Trägerschaft. Diese ist aus Sicht der Regierenden natürlich entscheidend, aus Sicht von Empfängern jedoch nebensächlich.

Fazit: Mut zur Veränderung, unverändert

Das Ergebnis meiner Analyse hat mich ehrlicherweise überrascht. Es erklärt, weswegen SPD und Grüne nur sehr selten versuchen, Union und FDP und ihre im Vermittlungsausschuss eingeführten Härten für die schlechte materielle Lage von Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen verantwortlich zu machen. Ein Beispiel: Nach den Erhöhungen der Schonvermögen durch die letze schwarz-gelbe Regierung etwa erklärte Jürgen Trittin im Gespräch mit der Zeit:

„Das niedrige Schonvermögen wurde doch von der Union im Bundesrat zur Bedingung für eine Zustimmung zu Hartz IV gemacht. Das war keine rot-grüne Idee.“

Mit genügend spieltheorethischem Eifer oder mehr Hinterzimmerwissen als der Verfasser lässt sich natürlich die Hypothese aufstellen, dass die rot-grüne Regierung die Ideen der Opposition quasi in vorauseilendem Gehorsam integriert hatte, ernsthaft politisch abgebildet hat sich das allerdings nirgendwo. Und es bleibt auch schleierhaft, wo darin der Gewinn gelegen hätte.

Umgekehrtes versuchten im Sommer 2004 natürlich auch Union und FDP, die gerne auf als unfair darzustellende Regelungen schimpften.

Allein, das Wesen von „Hartz IV“ ist simpler. Das Gesetz wurde von einer quasi-Allparteienkoalition mit einer klaren Linie durchgebracht. Ob die Gesetze in der Summe, in Teilen, für einzelne, für die Gesellschaft … falsch oder richtig, unsozial oder dringend nötig oder was auch immer waren, spielt an dieser Stelle keine Rolle (und ist daher auch nicht Teil dieses Beitrags). Was aber deutlich ist: Die überwältigende Mehrheit aller Abgeordneten sah sich damals überzeugt, hier den richtigen Weg zu beschreiten. Das sollten alle Beteiligten offener kommunizieren. In der Ankündigung war zwar insbesondere die SPD sehr transparent, hat aber andererseits insbesondere die avisierte ALG-II-Höhe komplett entgegen ihrer Ankündigungen umgesetzt.

Offenlegung: Ich war von 2002 bis 2009 Mitglied der FDP. Ich bin seit 2009 Mitglied der Grünen.

Vielen Dank an die MitarbeiterInnen des Vermittlungsausschusses für ihre Unterstützung bei der Recherche.

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