Es kommt selten vor, dass ich ungläubig zum Taschenrechner greife, weil ich den Daten, welche die Tabellenkalkulation auf den Bildschirm wirft, misstraue – meist hat man ja doch ein einigermaßen gutes Gefühl und Gedächtnis (bitte an dieser Stelle einen klugen evolutionspsychologischen Satz über menschliche Einschätzungen denken). Bei dieser Ausgabe der Vorberichterstattung zu den Abgeordnetenhauswahlen am kommenden Sonntag hingegen war es soweit: Ich hatte tatsächlich unterschätzt, wie stark die Stadt nach Wahlergebnissen gerechnet geteilt ist (oder zumindest bei den letzten Wahlen war – immerhin auch über 15 Jahre nach der Wiedervereinigung). Die eigene Wahrnehmung eines in Mitteund Prenzlauer Berg Lebenden trübt da doch erheblich (wieder an einen klugen Satz denken).
Im Einzelnen habe ich mir angesehen, inwieweit die Zustimmung zu den Parteien in den zwölf Berliner Bezirken sich verhält. Natürlich sind regionale Unterschiede je nach demographischen Faktoren und Siedlungsstruktur keine große Überraschung, allerdings war das Ausmaß erheblich.
In acht der zwölf Bezirke war die SPD beim letzten Mal stärkste Kraft – zweimal stand die Union vorne (Reinickendorf und Steglitz-Zehlendorf), zweimal die Linke (mein Heimatbezirk Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf). Es ist genau diese Konstanz, welche der SPD ihr gutes Abschneiden insgesamt sichert, denn anders als Linke und CDU ist der Distanz zwischen Berg und Tal bei ihr überschaubar: Gerade einmal sechseinhalb Prozentpunkte trennen sozialdemokratisches Minimum und Maximum. Bei den anderen Parteien sind die Unterschiede teilweise massiv, wie nachfolgende Tabelle und Diagramm zeigen.
Im Diagramm habe ich schlichtweg erfasst, wie das Resultat der Partei im jeweiligen Bezirk (respektive Gebiet) im Verhältnis zum landesweiten Ergebnis ausfällt. Die Anordnung der Bezirke ist übrigens quasi ein Schneckenhaus – aus der Mitte entgegen des Uhrzeigersinns in die Außenbezirke.
Dementsprechend ist auch erkennbar, dass die besonders starken Ausschläge der Linken in den reinen Ostbezirken liegen, wo die CDU wenig überraschend deutlich unterdurchschnittlich performt – und umgekehrt. Die Höhe der Ausschläge allerdings ist enorm – die Linkspartei liegt im nordwestlichen Reinickendorf knapp zehn Prozentpunkte unter ihrem Berlin-Resultat, in Lichtenberg dagegen mehr als zwanzig Punkte darüber. Dort gab es das beste Bezirksergebnis einer Partei überhaupt; in vier Westbezirken bleib die Linke dagegen unter vier Zählern, in nur einem einzigen (Neukölln) hätte es zu einem Satz zumindest auf die Fünfprozenthürde gereicht. So überrascht es auch nicht, dass die Linke insgesamt die Partei mit den größten Unterschieden ist – sowohl was die Spreizung der Ergebnisse angeht, als auch bezüglich der Standardabweichung.
Als nächstes folgt die CDU, danach die Grünen, die in Friedrichshain-Kreuzberg zwar viele, aber sowohl im reinen Osten als auch in den bürgerlichen Westaußenbezirken weniger Stimmen erringen. Das Bild der FDP folgt – auf wesentlich geringerem Niveau und folglich mit absolut geringerer Amplitude – dem der CDU, während die vergleichsweise konstant bleibt.
Selbstverständlich gibt es auch innerhalb der ehemaligen Stadtgebiete Ost und West Unterschiede – in Steglitz-Zehlendorf tun sich Union und FDP wesentlich leichter als in Neukölln; die Grünen profitieren von der Sozialstruktur in Pankow, tun sich aber sonst in den reinen Ost-Bezirken schwer – aber auch in Reinickendorf und Spandau. So ergibt sich für Berlin eine interessante Mischung aus den „üblichen“ demographischen Faktoren – und der Ost-West-Komponente, deren Ausmaß ich eben unterschätzt hatte.
War dieses Ergebnis spezifisch für die letzte Abgeordnetenhauswahl, oder zeigt sie einen grundsätzlichen Sachverhalt in Berlin auf? Um das herauszufinden, habe ich auch die Ergebnisse der letzten Bundestags- und Europawahl (beide 2009, und unter deutlich schlechterem Stern für die SPD) der gleichen Analyse unterzogen. Bei beiden konnte die SPD in keinem einzigen Stadtbezirk mehr stärkste Partei werden, das übernahmen
- in den Innenstadtbezirken Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg die Grünen
- in den Westberliner Gebieten die CDU
- und im Osten die Linke (Pankow ging bei der EU-Wahl an die Grünen),
bestätigt also die bisherigen Tendenzen. Aber es geht noch weiter: Auch bei diesen Wahlen
- war die SPD, wenn auch auf anderem Niveau, die konstanteste aller Parteien
- zeigten die Linke die größte Spreizung vor der CDU respektive den Grünen, deren traditionell eher europafreudigere Wählerschaft bei der EU-Wahl ein dynamischeres Ergebnis brachte
Selbst die einzelnen jeweils stärksten und schwächsten Bezirke blieben weitgehend gleich:
- Friedrichshain-Kreuzberg ist die konstante Grünen-Hochburg und der Tiefpunkt für FDP und CDU
- Steglitz-Zehlendorf ist für die FDP optimal, für die Linke katastrophal
- die Union holt ihr bestes Ergebnis in Reinickendorf
- Marzahn-Hellersdorf ist grüne Diaspora, Lichtenberg die sicherste Bank für die Linke
Lediglich bei der SPD gab es hier kleinere Entwicklungen: War bei der Abgeordnetenhauswahl Charlottenburg-Wilmersdorf noch der Paradebezirk, ging dieser Titel 2009-Wahlen nach Spandau, während Friedrichshain-Kreuzberg bei der Wahl zum EU-Parlament statt Marzahn-Hellersdorf der schwächste Stadtteil war.
Die Wahlpräferenzen in Berlin sind also jeweils in sich vergleichsweise gefestigt, Stimmungsschwankungen wirken sich gleichermaßen auf alle Bezirke aus. Davon wiederum profitiert die SPD bei Berlin-Wahlen, da der Wowereit-Bonus eben in ganz Berlin zieht.
Übrigens: Der Bezirk, dessen Ergebnis im Durchschnitt (Summe der absoluten Abweichungen) dem des Landes am nächsten kommt, ist – Mitte.
In der nächsten Ausgabe geht es an die Umfragen – jene der Vergangenheit und wie sehr sie das Ergebnis trafen.