Es ist sicher keine Übertreibung, den Landtagswahlen im Südwesten am kommenden Sonntag eine besondere Bedeutung zukommen zu lassen, sowohl regional als auch bundesweit. Das hat verschiedene Gründe, wie die Entwicklung zeigt:
- Baden-Württemberg gilt als das „bürgerliche“ Stammland per se: Kein einziges Mal riss die FDP hier je die Fünf-Prozent-Hürde, in jeder Wahl war die CDU stärkste Partei, seit 1968 sogar durchgängig mit mehr als zehn Prozentpunkten vor der traditionell schwachen SPD, von 1972 bis 1992 mit absoluter Mehrheit. Ein CDU-Ministerpräsident ist quasi der Standard-Zustand, auch wenn es durchaus Ausnahmen (große Koalition 1992-96 gegeben hat.) Ein dementsprechend dramatisches Signal wäre der Verlust der Macht im Land – und im Gegensatz zum statistisch noch größeren Traditionsbruch in Bayern sogar einer, der eben nicht nur die Schwesterpartei betrifft, sondern die CDU gesamt.
- Baden-Württemberg verfügt im Bundesrat über sechs Sitze. Ein Verlust würde zwar der Opposition keine Mehrheit geben, den Regierungsblock aber weiter schrumpfen lassen. Siehe hierzu auch meinen Beitrag Landtagswahlen 2011.
- Gleichzeitig ist für die in Karlsruhe gegründeten Grünen Baden-Württemberg das Aushängeschild unter den Flächenländern. Zum ganz großen Satz, also etwa Bundestagsdirektmandaten, hat es zwar noch nicht gereicht, aber dennoch sind insbesondere die städtisch oder/und studentisch geprägten Regionen (Karlsruhe, Tübingen, Stuttgart, Freiburg) eine Bastion. Sollte es den Grünen tatsächlich gelingen, den Ministerpräsidenten zu stellen oder zweitstärkste Kraft zu werden, hätte das auch auf die bundespolitische Balance im Lager einen Einfluss.
Stuttgart 21, das noch im Herbst die Stimmung und Umfragen massiv beherrschte, scheint nach den Vermittlungsgesprächen durch Heiner Geißler das Gewicht genommen, unabhängig davon, für wie neutral man seinen Schlichterspruch nun halten mag. Dafür dürfte die Kernkraftdebatte einigen Einfluss haben, wie schon letzten Sonntag in Sachsen-Anhalt ersichtlich wurde. Tatsächlich liegen die letzten Umfragen, in denen schwarz-gelb eine Mehrheit hatte, vom Befragungszeitraum betrachtet vor dem Erdbeben und Tsunami, seither konnten die Grünen weiter an gemessener Zustimmung gewinnen und wieder auf den zweiten Platz vorklettern.
Anmerkung zu nachfolgender Tabelle: Ich habe jeweils die mögliche Koalition mit einer Mehrheit hinterlegt. Dabei unterscheide ich nicht zwischen Rot-Grün und Grün-Rot. Erkennbar: Die drei Szenarien mit der Linken im Landtag schaffen eine Patt-Situation. Nach der Erstellung des Beitrages kam noch eine Umfrage hinzu, die zwar in obige tabelle, nicht jedoch in nahestehende Abbildung eingebaut werden konnte.
Insgesamt sind die Trends in den Umfragen (ich habe aus der grandiosen wahlrecht.de-Übersicht zwei Umfragen unbekannter Institute mit verqueren Resultaten ausgeschlossen):
- die CDU wird wohl stärkste Partei, allerdings vermutlich ihr 1992er-Ergebnis unterbieten und damit womöglich das schwächste Resultat seit 1952 (oder wie man im Fernsehen sagen könnte, „seit 59 Jahren“) einholen
- die SPD wiederum kann sich aus ihrer chronischen Schwäche kaum befreien, die absolute Mehrheit in Hamburg zeigt die deutlichen regionalen Unterschiede
- spannend wird das Rennen um Platz zwei zwischen Sozialdemokraten und Grünen – das noch im Herbst kolportierte Szenario der Grünen als stärkster Partei geben die jüngsten Daten nicht mehr her
- die FDP wird zwar gegenüber ihren vergangenen Ergebnissen Federn lassen, ein liberalenloser Landtag (Entschuldigung für das Wortspiel) jedoch ist nicht wahrscheinlich
- Sollten die Linken es in den Landtag schaffen, ist eine schwarz-gelbe Mehrheit nahezu ausgeschlossen, wobei das Wahlrecht im Südwesten die Union stark bevorteilt (dazu in einem weiteren Beitrag mehr)
Dementsprechend spannend ist ein Blick auf vergangene Umfragen, um mögliche Unsicherheiten für den kommenden Sonntag zu analysieren. Nehmen wir den spektakulären 1992er-Fall beiseite (Allensbach hatte absichtlich einen niedrigen Wert für die Republikaner publiziert, um ihnen weniger öffentliche Aufmerksamkeit zu geben), zeigt sich das folgende Bild:
- 2006 wurde die SPD zulasten von Grünen und FDP um drei bis vier Prozentpunkte unterschätzt
- 2001 sah kein Institut das hohe CDU-Ergebnis voraus, wobei die dafür zu hoch bewerteten Parteien schwanken, inklusive der Republikaner-Bewertung
Hieraus könnte man kühn schlussfolgern, dass die Institute in ihren Anpassungen der Ergebnisse besonders starke Stimmungswandel in den jeweiligen Umfragen (SPD-Absacker 2006, CDU-Gewinn 2001) zu stark mit langfristigen Werten gemittelt hatten, oder dass sich besonders Last-Minute-Wähler unberechenbar verhalten haben. Für eine nachhaltige Aussage ist die Datenbasis natürlich zu dünn, allerdings sind mehr als drei Prozentpunkte Abweichung nicht zu vernachlässigen – besonders, wenn die Mehrheitsverhältnisse so knapp sein können wie diesen Sonntag.
Im nächsten Beitrag werde ich mich noch einmal um die Linke in westdeutschen Flächenländern und das Baden-Württemberger Wahlrecht kümmern.