Bürgerschaftswahlen in Hamburg (3): Taktisch wählen gegen die absolute SPD-Mehrheit?

Politik

Das taktische Wählen, also das bewusste Votum für eine Partei, auch wenn sie eigentlich nicht der persönliche Präferenz unter den gegebenen Optionen entspricht, ist nicht allein demokratietheoretisch spannend. Es eröfnet auch die Möglichkeit für einige interessante Szenarioanalysen. Neben der etwa im Bundestagswahlrecht üblichen Teilung in Erst- und Zweitstimme und den damit verbundenen Überhangmandaten ebenfalls ein Dauerbrenner: „verschenkte“ respektive „Leih“-Stimmen. Eine „verschenkte“ Stimme ist in diesem Fall eine für eine Partei, welche das zum Parlamentseinzug nötige Quorum nicht erreicht, eine „Leihstimme“ eben das jeweilige Abgeben an die zweitbeste Wahlmöglichkeit mit besseren Aussichten. Das kann mitunter durchaus brachiale Auswirkungen haben, wie ich am Beispiel von Hamburg demonstrieren möchte.

Im reformierten Hamburger Wahlrecht erhält jeder Wähler zehn Stimmen für Landes- und Wahlkreislisten (und noch einmal zehn für die Bezirksversammlungen). Innerhalb der jeweiligen Parteien respektive Wählergruppierungen werden die Abgeordneten dann entsprechend der Kreuze respektive vorliegenden Listensortierung eingeordnet, insgesamt gilt aber die [mit Ausnahmen in Extremsituationen] übliche 5%-Sperrklausel aller abgegebenen gültigen Stimmen und ein Auffüllen der dabei unverbrauchten Restprozentpunkte.

Die FDP in der Hansestadt ist traditionell ein Wackelkandidat, auch wenn die Demoskopen sie derzeit überwiegend bei 5% sehen. In einem Szenario, das ungefähr dem Mittelwert der letzten Umfragen entspricht, sehe die Sitzverteilung am Straßennamen so aus. (Der SPD-Wert ist minimal höher, um den Effekt deutlicher zu machen.)

Szenario 1 - FDP drin

Szenario 1 für die Hamburger Bürgerschaftswahl: Die FDP ist ganz knapp in der Bürgerschaft, die SPD erhält keine absolute Mehrheit, das Mitte-Rechts-Lager ist maximal stark.

Dieses Szenario – die FDP weniger hundert Stimmen überm Durst – gab es durchaus schon häufiger, zuletzt spektakulär 1999 in Hessen. Hätte die FDP damals den Einzug nicht geschafft, wäre die rot-grüne Regierung in Wiesbaden und damit Schröders Mehrheit im Bundesrat geblieben. (Das Szenario ist sonst wenig vergleichbar, denn in Hessen war die Gesamtsituation damals einfacher: Maximal vier Parteien im Parlament, keine absolute Mehrheit in Sicht.)

Ein anderes Szenario: Genau jene Hundertschaft Stimmen fehlt und die FDP schrammt vorbei – so etwas gab es zum Beispiel in NRW 1980 genau jene ärgerlichen 4,98%. In diesem Fall erhalten die übrigen Parteien die an 100% fehlenden Anteile an Stimmen proportional hinzu (Divisor-Verfahren), näherungsweise schlichtweg nach der Formel Stimmenanteil / (Summe der Stimmenanteile der Parteien >5%).

Szenario 2 - FDP draußen

Szenario 2: - die Liberalen verfehlen den Einzug um Haaresbreite, zusammen mit den sonstigen Parteien ist der Block der an 100% "fehlenden" Sitzen groß genug für eine absolute SPD-Mehrheit.

Rechenbeispiel: Die SPD hat 46,5% der Stimmen, erhält aber einen Sitzanteil von 46,5% / (46,5%+25%+15%+6%) = 50,3%. Dieses Verfahren kommt natürlich immer zum Einsatz, spielt aber bei kleineren „sonstigen“ Parteien eine geringere Rolle, man vergleiche die entsprechenden Stimmen- und Sitzanteile im ersten Beispiel. Kommt eine Partei aber ohnehin näher an die 50%-Marke, reicht ggf. sogar ein relativ kleienr Wert für <5%-Parteien, wie 1991 in Hamburg für die SPD 48,0%. Dementsprechend könnten FDP-Wähler von vornherein in größerem Maße einer anderen ihr nahe stehenden Partei die Stimme geben:

Szenario 3 - taktisch CDU gewählt

Szenario 3: Ein signifikanter Teil der FDP-Wähler gibt der Union die Stimme (Summe bleibt 29%). So schneiden die Liberalen schlechter ab, das Mitte-Rechts-Lager aber besser als in Szenario 2.

Wenn nun ein signifikanter Teil der FDP-Wähler taktisch vorgehen, ist der „Auffüllfaktor“ insgesamt entsprechend geringer, zudem erhält eine andere Partei die Stimmen (vor der Auffüllung). Das kann inhaltlich bizarr erscheinen – denn ein FDP-Wähler zum Beispiel mag den Liberalen wegen „Wir wollen lernen“ zugetan sein, gerade die CDU wegen der Bildungsreform aber abgeneigt -, kann einem übergeordneten Ziel wie der Verhinderung der absoluten SPD-Mehrheit jedoch dienlich sein.

Gerade für die FDP können taktische Wähler desaströse Folgen haben, wenn eigentlich genügend Wähler für den Einzug da wären. Im konkreten Beispiel Hamburg könnte – neben dem grundsätzlichen „nichts verschenken“ – eine Motivation sein, der CDU zumindest das Viertel nötige Sitze für die (fiktiv nötige) Einberufung eines Untersuchungsausschusses zuteil kommen zu lassen. Oder man gönnt der SPD die Erfolgsgeschichte absolute Mehrheit nicht und möchte auf Nummer sicher gehen.

Eine Mehrheit von SPD und jeder beliebigen anderen Partei wird man auf diesem Wege nach derzeitigem Umfragenstand aber nicht verhindern. Und: Auch wenn die Gerüchte um eine sozialliberale Koaltion vage sein mögen – um überhaupt als Koalitionspartner in Frage zu kommen, muss man eben auch erst einmal im Parlament sein.

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