Anno 1800: Zug um Zug zur Zeitenwende

Spieltrieb

Ein Augustnachmittag in Mainz, 2008: wir drehen die Videos für die aktuelle PC-Games-Titelgeschichte. Noch weiß die Welt wenig von Anno 1404. Nie die Öffentlichkeit erblicken wird ein mauer Humorausflug meinerseits über die Schwierigkeit, die Anno-Jahresformel „Quersumme muss neun ergeben“ für das neunzehnte Jahrhundert durchzusetzen, weil ja dann keine Zahl mehr nach der 18 bleibt. Produzent Thomas Pottkämper lacht, dass das in der Tat ein Problem werden könnte, und das wars. Nicht so lustig, kommt nicht auf die DVD1.

Tatsächlich war ich aber überzeugt, dass 1800 ganz sicher der nächste Teil sein wird. Schließlich oszillierte die Serie vorher wie ein umgekehrtes Näherungsverfahren vor und zurück (1602, 1503, 1701, 1404). Als die Serie dann überraschend in die Zukunft sprang, hielt ich es trotzdem für eine gute Entscheidung.

Bei näherer Betrachtung ist 1800 nämlich eine durchaus herausfordernde Jahreszahl.Rückblick: Anno als die perfekte Spiel-Produktionskette

1997 liegt der Oktoberausgabe von PC Games ein sechzehnseitiges Special zu Anno 1602 bei2. Nahezu alles daran ist aus Branding-Perspektive perfekt. Für damalige Zeiten umwerfende Rendergrafiken aus dem Intro setzen die Atmosphäre, auf den Seiten im Heft wird das Spiel eingeführt: als Siedler 2 mit mehr Einwohnern und Echtzeitstrategiekämpfen.

Anno 1602 Sonderbeilage PC Games

Das Special zu Anno 1602 vor über 20 Jahren – ich erinnere mich noch an die Entzückung darüber in der Klasse beim Durchblättern.

Das Bluebyte-Logistik-Aquarium hatte 1996 Zeitschriften-Awards und Verkaufsrekorde en masse eingesammelt. 3 Die Kombination aus leicht erklärender und lesbarer Logistik in einem unbestimmt altertümlichen Knuddelgrafiksetting eine großartige Mischung. Bluebyte waren damit keineswegs allein: Die „seichtes mitteleuropäisches Früh- oder Gefühlsmittelalter“-Nische wurde auch in den kommenden Jahren beackert. Land der Hoffnung. Die Völker. Knights and Merchants. Sie alle greifen verschiedene mit dem Mittelalter als Fantasieprojektionsfläche assoziierte Elemente auf.

Gleichermaßen ekstatisch wahrgenommen: Echtzeitstrategie. Command & Conquer sowie WarCraft 2 traten einen Boom sondergleichen los, nahezu jedes Publisher-Portfolio nahm einen entsprechenden Titel auf. Damals füllten sie Regale und Heftseiten, heute sind die Beinahe-Champions-League-Titel der Zeit – KKND, Dark Colony, die Earth-Serie… – höchstens in längeren Mobygames- oder GOG-Listen aufzufinden.

Und genau diese beiden Zutaten vereint die Anno-Produktionskette: Aufbau in präindustrieller Zeit und Echtzeitstrategie, veredelt mit einem Mehrspielermodus. Aus keiner Fokusgruppenanalyse wäre etwas perfekteres herausgekommen, und so segelte ein Doppelgoldverkaufserfolg mit Ansage in die Läden.

Gutes Konzept gut umgesetzt

Das heißt keineswegs, dass Anno 1602 nicht auch als „lediglich“ gutes Spiel werden können, Marke Schlechtwetterheftvollversion. Gerade die – aufmerksamen Ohren entgeht ein deutliches Räuspern nicht – Kontroverse um den Nachfolger 1503 (zu indirektes Wirtschaftssystem) und seltener auch um den Nachnachfolger 1701 (zu einfach, nicht genügend langfristige Herausforderung) verdeutlichen das.

Doch 1602 hat eben vieles richtig gut gemacht: Das Warensystem ist greifbar wie bei Siedler 2. Die Zivilbevölkerung wird letztlich einfach als Konsumklasse dazu gepackt, Anno verzichtet auf zusätzliche Komplexität wie Arbeitskräfte oder Geländeattraktivität. Weil sich im Gegensatz zu Siedler 2 weniger Rohstoffquellen erschöpfen, wird das Aufbau-Erlebnis noch schlüssiger, noch befriedigender. Und: Inseln in Anno-Größe sind ein räumlich sinnvoller Weg, die Welt in beherrschbare Gebiete einzuteilen und Progression direkt erlebbar zu machen.

In der Summe lässt sich das kaum besser machen. Und es passt wunderbar in die spätmittelalterlich-vorindustrielle Zeit.

Das Y1.8K-Problem: Die Bahn kommt

Nur für das Jahr 1800 trifft vieles davon nicht mehr zu. Hier ist die Industrialisierung greifbar. Kein noch so nach Manufactum-Katalog mit Augmented Reality aussehender Trailer könnte das wegassoziieren. Unsere Urgroßeltern sind teilweise noch im 19. Jahrhundert geboren. Bei quasi jeder „modernen“ Erfindung war ein wesentlicher Durchbruch vor 1900, bei nahezu jeder Stadt ein gewaltiger Bevölkerungszuwachs.

Das ist kein Problem, wenn es einfach um den Wechsel der Industriegebäude geht. Die Webstube heißt nun eben Stofffabrik und benötigt Holz oder Kohle.

Das ist kein Problem, wenn es um den Architekturstil geht. Um die Integration von neuen militärischen oder nautischen Technologien. Solange nichts fliegt oder über Inseln hinwegschießen kann, gerät da keine Balance aus den (Industrie-)Fugen. Sogar Umweltverschmutzung und verschiedene Gesellschaftsschichten können wir einbringen.

Das ist aber ein Problem, wenn es um die Abbildung des Infrastrukturrückgrats der Zeit geht, oder um das Mittel der Wahl zur Erschließung Nordamerikas. Die Eisenbahn ist in der Geschichte, politisch wie wirtschaftlich, untrennbar mit der Periode verbinden.

Doch mit Ausnahme vereinzelter Rieseninseln sind die Eilande schlicht zu klein, um da glaubwürdig Gleise hinzusetzen. Neben der durchschnittlichen Stadt mit ein paar Tausend Einwohnern gliche der Zug der Bimmelbahn im örtlichen Freizeitpark 4. Die Insel als wesentliche Spiel-Fläche zerstört die Balance zwischen Mechanik und Glaubwürdigkeit, mithin Atmosphäre5.

Eine typische Insel in Anno 1404 – beherrschbar und für Bevölkerung und Industrie einteilbar. Aber ein glaubwürdiger Platz für eine Eisenbahn?

Ein substanzieller Konflikt: Anno kann eine Inselwelt abbilden oder eine glaubwürdige Industrie-Szenerie. Inseln in traditioneller Größe sind mit einem Anno Railroad unvereinbar. Ubisoft hat sich dagegen entschieden, 1800 kontinentaler werden zu lassen, und bis jetzt wenig zu Eisenbahnen veröffentlicht.

Priorität: Die Anno-Mechanik im Industrie-Zeitalter

Die Kabale um Anno 1503 betrafen primär den Mehrspielermodus, mit etwas Abstand die fehlende Steuerschraube; letztlich fiel Anno-Ursprungsentwickler Max Design dem zum Opfer. Folglich beteuerte Related Designs/Ubisoft Mainz bei jedem Nachfolger, dass “Anno bleibt Anno” nicht angetastet wird6.

Wie erwähnt, sind Spiele (oder Filme, oder Belletristik) keine historisch akkurate Reproduktion ihrer Szenarien. Sie bedienen sich gezielt verschiedener visueller oder inhaltlicher Aspekte, um eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen, vor welcher die eigentliche Mechanik abläuft.

Für Anno 1800 heißt das natürlich, dass das klassische Gameplay weiter bestehen muss, natürlich notfalls vor historischer Genauigkeit. Wo sich behutsam Anpassungen machen lassen, die Atmosphäre und Spiel gleichermaßen fördern: Machen. Wo zeitgenössische Anpassungen sich nicht oder nur recht albern integrieren ließen: Zurück zur Annolyse.

  1. Dafür nehmen wir ein paar Wochen später ein schönes Video zum Soundtrack auf.
  2. Als Titel wählt Petra Maueröder, heute Fröhlich, ‚Eine Frage der Ära‘, und ich würde mir wünschen, selbst darauf gekommen zu sein.
  3. Auch wenn im Spiel, wie in der dazugehörigen Stay-Forever-Folge rausgearbeitet, letztlich in niedlichster Wimmelbildatmosphäre nahezu ausschließlich wenig nachhaltiger Rohstoffabbau stattfindet.
  4. Dieses Beispiel-Video verdeutlicht das recht gut.
  5. Hinzu kommen ein paar Schwierigkeiten im Detailbereich wie Kurvenradien, die in diesem Thread erörtert werden.
  6. Die Lagerhaltung und das doch nie richtig flüssige Kampfsystem an Land wurden von Zeit zu Zeit überarbeitet.

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