Das lange zögert, eh es untergeht

Politik

Die Gnade meines Geburtsdatums heißt, dass viele Krüge des real existierenden Sozialismus an mir vorbeigezogen sind. Kein Marxismus-Leninismus als verpflichtendes Studienfach, keine ‚Entscheidung‘ ob der Nationalen Volksarmee, noch nicht einmal das Pionierdasein hielt Einkunft in meine Vita.

Was wiederum keineswegs bedeutet, dass ich nicht doch viel Prägung, viel Erinnerungs- und Einordnungsmasse mit der DDR verbinde, und mit dem Fall der Mauer ganz besonders.Meine Großmutter war zu Besuch. Sie hörte zeitlebens recht schlecht, und Fernsehen ganz besonders. Der 9. November 1989: Das Sandmännchen war verspätet. Soweit ich mich erinnere, sollte es gegen 17:50 Uhr gesendet werden und ich danach ins Bett, aber halb acht deutete meine Großmutter immer noch auf den Schirm und tadelte, dass „da immer noch nur alte Männer reden“. Kurz darauf kam meine Mutter nach Hause. Ich glaube, sie war irgendwie aufgeregt, und irgendetwas wichtiges war passiert, und dann verstand es auch meine Großmutter, aber hier verschwimmen meine Erinnerungen zu sehr.

Woran ich mich gut entsinne, ist der nächste Tag. Grenzübergang Friedrichstraße, eine endlose Schlange von Menschen. Keine Ahnung, was genau die wollten. Nach sieben Kleinkindgefühlstunden (also vielleicht 40 Minuten) waren wir drüben. Und ab hier setzt meine Erinnerung komplett klar ein, denn das Kontrastprogramm zwischen „Berlin (Ost), Hauptstadt der DDR“ und Charlottenburg und Wilmersdorf hätte nicht grösser sein können.

Es war wie in diesen Werbespots für neue Videoformate, wo ein grauverschleiertes Miniaturetwas durch eine farbenprächtige Bildschirmflut ersetzt wird. Zwar habe ich meine Umgebung in Berlin-Hohenschönhausen nicht als dediziert trostlos in Erinnerung, aber der Unterschied war ein gewaltiger. Daheim Kieselsteinplattenbauten, bestenfalls funktionale Typografie – und im Westen alles bunt. Alles leuchtet. Alles spricht.

Es gibt… Dinge. Weiße Schokolade, was ich nachgerade für Magie hielt. So viele unfassbar vielfältige Kuscheltiere. (An McDonald’s erinnere ich mich erstmal nicht, das wurde aber später fester Bestandteil der Samstagsausflüge zum Kurfürstendamm). Ohne Kenntnis der politischen Kontexte wirkte alles einfach wie ein Ausflug in ein riesengroßes Märchenland (Bällebäder oder Narnia als Vergleich hatte ich auch nicht).

Ja, ‚Wir hatten ja nichts‘ ist ein längst ausgetrockneter Floskelpfad, und natürlich ist es leicht, ein solches Erlebnis als puren Konsumerismus-Auswuchs zu sehen.

Für mich war es, auch wenn ich den Begriff Mangelwirtschaft damals natürlich noch nicht kannte, ein einfacher Vergleich und auch jetzt, da die Mauer länger gefallen ist als gestanden hat, mein erster Gedanke zur Wiedervereinigung. Ein Staat kann nicht nachhaltig auf Enthaltung gebaut sein, nicht auf der Enthaltung politischer Freiheiten, nicht auf der Enthaltung von Wirtschaftsgütern.

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