Vorgezogene Landtagswahlen seit 1948: Gewinner und Verlierer

Politik

Am vorvorvergangenen Sonntag fand die letzte Wahl des Jahres in Deutschland statt. Wie sich andeutete, konnte die SPD den Impuls ihrer Umfragewerte in ein gutes Ergebnis umsetzen. Beinahe hätte es sogar für eine klassische rot-grüne Regierung gereicht!

Doch wie oft kommt es eigentlich in Deutschland auf Landesebene zu Neuwahlen? Relativ selten, und außerhalb von Berlin und Hamburg fast nie:

  • In Berlin mit dem Klammerzusatz „West“ gab es Neuwahlen 1948, 1950 und 1981. Im vereinigten Berlin dann 1990 und 2001. In Hamburg waren vorgezogene Wahlen beinahe die Regel: 1982, 1987, 1993, 2004 und 2011 ging es vorschnell zur Urne.
  • Hessen wählte 2009 gleich zweimal.
  • In Schleswig-Holstein führten verfassungsrechtliche Bedenken zum Wahlrecht 2009 und 2012 zu verkürzten Legislaturperioden.
  • 2009 wählte das Saarland neu, weil Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer der FDP die Zurechnungsfähigkeit absprach. Und nach 1955 kurz vor dem Beitritt zur Bundesrepublik.
  • 2012 fiel der Haushalt des Landes Nordrhein-Westfalen in erster Lesung durch.
  • Und schließlich wählte Niedersachsen eben doch nicht erst im Januar 2018, sondern bereits letztes Wochenende.

Noch nie außerplanmäßig gewählt wurde in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern sowie allen neuen Bundesländern. Nicht gezählt als verkürzte Periode habe ich hierbei Wählen bei der Neuordnung der Bundesstaaten nach Kriegsende oder alle Wahlen in der sowjetischen Besatzungszone.

Wer diesen Blog regelmäßig liest, weiß um die nun folgende phrasenschweinpflichtige Belehrung: das ist eine dünne Datenbasis. Dennoch wollte ich mir einmal anschauen:

  • weswegen Wählen vorgezogen wurden,
  • wer davon profitierte,
  • ob es demoskopische Besonderheiten gab.

Ursachen für Neuwahlen

Derer gibt es nach meiner Kategorisierung:

  • Poltische Großereignisse/Gerichte verändern die Rahmenbedingungen
  • Koalitionen kommen nicht zustande
  • Koalitionen zerbrechen.

Die nachfolgende Tabelle illustriert einmal chronologisch, wie oft im Schnitt was davon stattfand:

Die Farbgebung in obigem Diagramm: Blau für große Politik, Ocker für Koalitionsbruch, Pastell-Orange für nicht zustande gekommene Regierungen, Grün für gerichtliche Wahlrechtsanfechtung, Trauriger-Malkasten-Grau für versehentliche Neuwahlen.

Angesichts der insgesamt stabilen föderalen Lage gab es seit nunmehr 62 Jahren keine Großereignis-bedingten Neuwahlen mehr. Und andersherum: In den ersten zwanzig Jahren der Bundespublik hat nach meiner Recherche keine einzige „einfache“ Neuwahl eben durch zerstrittene Koalitionspartner stattgefunden.

Wem nützt das?

Okay, jetzt haben wir einmal heruntergezählt, aber die nächste Frage ist: Wem nützen Neuwahlen etwas?  Hierzu betrachte ich einmal nur jene Wahlen, die rein politisch bedingt sind – also ohne Gerichtsentscheidungen und Großwetterlagenpolitik. Wenn eine Koalition zerbricht, trifft das die größere oder die kleinere Partei stärker? Auch hierzu nachfolgend eine kleine Aufstellung:

Neuwahlen in der Bundesrepublik

Diagramm mit allen politisch bedingten Neuwahlen der Bundesrepublik. Abgetragen ist jeweils die Entwicklung der Partei zum vorherigen Ergebnis. Lesebeispiel: 2017 in Niedersachsen verloren die Grünen rund 5% im Vergleich zur Vorwahl. Zum Vergrößern klicken.

Wenige Beispiele der Vergangenheit taugen für eine einwandfreie Analogie mit der gegenwärtigen Situation, in der immer wieder mit Neuwahlen kokettiert wird, sollten die Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene scheitern.

In den meisten Fällen finden auch rein politisch bedingte Neuwahlen aufgrund von durch Skandalen oder Entfremdung gebrochenen Koalitionen statt. Hier ist ein ganz deutlicher Tenor: Der „schuldige“ Koalitionspartner wird nahezu immer grandios abgestraft, und zwar umso mehr, je eindeutiger die Schuld öffentlich unbestritten ist. Die Bankenaffäre in Berlin 2001, das pauschale Kompetenz-Absprechen für die FDP im Saarland 2012,  die Garski-Affäre in Berlin 1981, alle ließen jeweils den primären Tatverdächtigen besonders federlos zurück.

Gleichzeitig erkennbar ist aber auch, das opportunistisches Neuwahlersuchen eher bestraft wird: Die Grünen konnten 2011 in Hamburg ein akzeptables, aber keineswegs berauschendes Ergebnis erzielen, auch viele ihnen hinsichtlich des  Zeitpunkt Opportunismus vorwarfen. Auch im Saarland gewann die CDU kaum Stimmen hinzu.

Der tatsächliche Fall „Neuwahlen, weil keine Regierungsbildung möglich ist“ taucht eben sehr selten auf – 2009 in Hessen taugt nur dann als Vorlage, wenn eine Partei nun gravierende taktische Fehler machen oder von ihren Kampagnenversprechen abweichen würde. Belastbare Umfragen dort wurden erst ab dem Zeitpunkt erhoben, als das Lavieren der SPD bereits sichtbar war.

Und das Wahlergebnis 1982 in Hamburg war auch eine Reaktion auf den „Verrat in Bonn“. Somit ist die Datenbasis selbst für qualitative Sozialforschung außerordentlich mikroskopisch. Bestenfalls lässt sich spekulieren, dass kleinere Parteien womöglich eher das Nachsehen haben könnten und dass tendenziell der gewünschte Regierungschef gestärkte Chancen erhält.

Für mögliche Neuwahlen auf Bundesebene könnte das bedeuten:

  • Treten spezielle Umstände ein – etwa eine lange Debatte über vermeidlich kommentarlos übertretene rote Linien wie die Obergrenze (Union), eine EU-Transferunion (FDP) oder Klimaschutzmaßnahmen (Grüne) und scheitern die Gespräche dennoch – etwa bei einem Bundesparteitag -, wäre das für den jeweiligen Partner verheerend.
  • Ansonsten ist es möglich – aber keineswegs sicher-, dass Neuwahlen eher die Union als regierungschefstellende Partei stärken würde.
  • Entsteht der Eindruck, eine Partei hat unnötig die Verhandlungen platzen lassen, kann sie sich davon wohl kaum erhöhten Zuspruch erhoffen.
  • Mit viel höherer Wahrscheinlichkeit würden jedoch die ganz konkreten Umstände zur jeweiligen Zeit der dominierende Faktor sein.

Die Köpfe in der Willy-Brandt-Straße sind also gut beraten, weiter zu rauchen.

Rohdaten wie immer auf meinem OneDrive.

Offenlegung: Ich war von ca. 2002 bis 2009 Mitglied der FDP und bin seit 2009 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen.

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