Jetzt seien Sie doch mal still

Worte, Noten, seltener Gerüche

Ich habe nach langer, langer Zeit mal wieder etwas Anderes als Haus- oder Masterarbeit geschrieben. Inspiriert nach nunmehr zwei tollen Lesebühnenabenden (rhythmisch angenehm nah an Knabenmorgenblütenträumen!) mit der großartigen Lea Streisand. Übertreibungsfreie Wiedergabe der Realität.

Zu ihrem Geburtstag hatte ich ihr ein Paar Karten für ein klassisches Konzert geschenkt. Da besagtes Jubiläum im Juli stattfindet, ist die Auswahl benachbarter Termine überschaubar. Die Open-Air-Darbietungen am Gendarmenmarkt scheinen zunächst eine Alternative, schließlich mag sie auch das Lied auch der Krombacher-Kinowerbung. Zudem: Die Young Euro Classic wird allsommerlich beworben, und sind eine ausgezeichnete Gelegenheit. Eine Gelegenheit dafür, die Dame am Ticketschalter nur mühevoll ihr Lachen unterdrücken zu sehen, wenn man nach Karten fragt. Wer’s nicht kennt, kann alternativ mal zu einem Bahn-Schalter laufen und sich nach den „29€-Fahrten nach Paris aus der S-Bahn-Werbung“ erkundigen. Nowosibirsk wird ja nicht mehr angeboten.

So fiel die Entscheidung letztlich auf das Saisoneröffnungskonzert der Berliner Philharmonie. Preislich adäquat zwischen Porto- und Nieren-verkaufen-Kasse angesiedelt, an einem Freitag im August.

Freitag, das ist ja praktisch. Da können wir ja vorher noch schnell Dinge erledigen. Zum Beispiel die jährlichen Impfungen der Katzen. Das Prozedere ist mittlerweile geübt: Termin machen, Taxi bestellen, Tiere einpacken, Wunden versorgen, losfahren, die Haustiersituation des Taxifahrers freundlich lächelnd entgegennehmen, abladen, kurz Warten, Tiere auspacken, Tierarzt den Job machen lassen, Tiere einpacken, Konto überziehen, narrativ begleitet zuhause ankommen.

Allein, an diesem Tag wechselte der Tierarzt offensichtlich gerade sein System zu einer Behandlung rein nach Erscheinungsreihenfolge, unabhängig von Terminvergaben. Vor uns gekommen waren drei eingepackte und drei angeleinte Patienten – anderthalb Akkuladungen Smartphonebenutzung später war die Immunisierung zwar erfolgreich, der eigentlich entspannte Terminplan jedoch hatte sich bedrohlich verengt. Es half nichts, wir würden nur wenige Minuten zur Tierausladung haben und müssten dann gleich wieder in ein Taxi.

„Meinst du, da sollte man sich irgendwie fein anziehen?“, fragte sie auf der Taxirückbank. Ich hmmte etwas entgegen, dass sich später situationsabhängig in alle Richtungen deuten lassen würde, scheiterte aber mit diesem allzu durchsichtigen Manöver und musste doch zugeben, dass hier eine der wenigen Möglichkeiten bestehen könnte, in Berlin underdressed zu sein.

Trotz des dadurch leicht gestiegenen Stresspegels und trotz des leicht irritierten Blick, den uns der Ich-habe-Sie-doch-eben-schon-gefahren-und-hätte-auch-warten-können-Taxifahrer zuwarf, kamen wir rechtzeitig an. Nicht rechtzeitig, um den Präsidenten und viele andere wichtige weiße ältere Herren zu sehen. Nicht rechtzeitig, dass es nicht doch etwas peinlich gewesen wäre, den roten Teppich zu benutzen. Und auch nicht rechtzeitig, um nicht in die Mitte unserer Seite Reihe „Entschuldigung“ nuschelnd mäandern zu müssen.  Im Kino hätten sie jetzt noch Trailer geschaut und eine arme Gestalt hätte mitleidig gefragt, ob wir nicht doch bittebitte ein Eis haben wollen. Hier trat der Kollege Rattle gerade auf sein Pult und fing an.

Auch nach anderthalb Jahrzehnten Klavierunterricht bin ich in klassischen Konzerten ein völliger Laie und kann bestenfalls etwas Musik-Grundkurs-Jargon loswerden und von wiederkehrenden Themen und Sonatenhauptsatzform dampfplaudern. Online habe ich Rezensionen des Konzertes gelesen, in der Leute einzeln die Dynamik zwischen Dirigent und Konzertpianist analysieren, in der genau Tempiwechsel der Bläser aufgezählt werden. Für mich gilt: Da stand ein Klavier, da hat jemand drauf gespielt, er hat sogar die schwarzen Tasten benutzt, das war also ein schönes Klavierkonzert.

Eins aber weiß ich: Zwischen den Sätzen einer Sonate oder eines Klavierkonzertes wird nicht geklatscht. Niemals. Das ist wie gleichzeitig „Wer spielt denn?“ und „Was ist eigentlich Abseits?“ fragen. Als also das Schlussmotiv des erstes Satzes von Brahms zweitem Klavierkonzert erklang und keine Unmusikalität der Welt reichte, um das Gespür für diese Zäsur zu unterdrücken, brandete es los. Kein Verb, und so es noch sei onompeiatisch, kann das sich nun entfaltende Verhaltensgefüge adäquat wiedergeben. Der uneingeweihte Teil des Konzertpublikums begann erwartungsgemäß zu klatschen, wobei Fußballkommentatoren an dieser Stelle eine Unsicherheit im Spielaufbau bemerkt hätten. Das gegnerische Team – also alle, die um das Nichtdazwischenklatschen als Regel wissen, unterdrückte  den Spielaufbau jedoch konsequent mit einem „Schhhh“, als hätte die stereotypischst-denkbare Bibliothekarin und das Grollen des Waldes Fangorn aus Herr der Ringe Liebe gemacht.

Vermutlich steckt dahinter eine soziale Komponente seitens der Wissenwannsiezuklatschenhabenden, wie das Motorengeräusch in der Tuner- oder die Fuchsschwanzopulenz in der Möchtegern-Tuner-Szene. Mit klandestinem Regelwerk, das alljährlich auf einer Geheimkonferenz audiophiler Frühkulturanthropologen festgelegt wird.

Im darauf folgenden Jahr fiel die Entscheidung leicht, denn am Gendarmenmarkt kam der Typ, der im Privatfernsehen immer singen muss, wenn jemand stirbt. Und im Kino der neue Spider-Man.

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