Anno 2070: Der sinnvolle Schritt nach vorne

Spieltrieb

Anmerkung: Hier gibt es keine erneute Wiedergabe der Anno-2070-Ankündigung. Die könnt ihr, liebe Leser, zum Beispiel bei GameStar, Gamersglobal, PC Games oder 4players lesen. Mein Artikel setzt sich damit auseinander, was aus Sicht von Ubisoft und Related Designs für diese dezente Neupositionierung einer so traditionsbewussten Marke spricht.

1602, 1503, 1701, 1404 – da erwartet man als nächstes 1800. So ein Spiel mit Schwerindustrie, Fabriken, je nach kreativer Freiheit auch schon Eisenbahnen. Doch dazu kommt es nicht, auch wenn selbstverständlich auch das 19. Jahrhundert Anno-typische maritime Handels-, Erkundungs- und Eroberungswege ermöglicht hätte.

Dieser Screenshot aus Anno 2070 illustriert das Prinzip: Vertrautes und Bewährtes mit Neuem kombinieren, um sich spielerisch wie kommerziell zu verbreitern.

Stattdessen kommt: Anno 2070. Behält die „Quersumme neun“-Regel, verschiebt die Null um einen Zähler nach vorne – und wirbelt das gesamte Gefüge ordentlich durcheinander. Denn während formal zwischen 2070 und 1701 auch „nur“ 369 Jahre  liegen (gleichviel wie zwischen 1404 und 1800), ist das gesamte Paradigma ein Anderes. Schauen wir uns das bisherige Anno-Quartett mal mit etwas Weitsicht und Weichzeichner an:

  • Anno 1404 und 1701 (zum Beispiel) sehen natürlich unterschiedlich aus, was eine teilweise gewollte, teilweise den Epochen (Spätmittelalter und Barock) und der jeweiligen Architektur und Farbgebung geschuldete Designentscheidung ist; im Grunde genommen bleibt es aber doch bei Siedlungen mit halt „irgendwie alten“ Wohnhäusern in verschiedenen Ausbaustufen, Handwerksbuden, Märkten, Bergwerken, Feldern und steinlastigen Verteidigungsbauten.
  • Auch die grundsätzlichen Spielmechanismen sind nicht durch die angesiedelte Epoche verändert. Die jeweils entscheidenden Neuerungen oder Änderungen des Anno-Gameplays in den ersten vier Spielen waren reine Gameplay-Überlegungen, die nicht im jeweiligen zeitlichen Kontext dominiert waren. Beispiele dafür wären das veränderte Wirtschaftssystem (Marktverkäufe als Einnahmequelle in 1503, sonst Steuereinnahmen), die in Anno 1404 verfeinerte Bedürfnisstruktur, Ruhmespunkte oder das dort eingeführte indirekte Kampfsystem. Bestenfalls bei Bestandteilen wie der Königin und dem Ziel Unabhängigkeit in Anno 1701 könnte man auf Kontextgebundenheit argumentieren, wobei es sich hier nicht um eine essenzielle Gameplay-Mechanik, sondern um eine nachgelagerte, schön eingebundene „Questreihe“ handelte.

Dieser knappe Exkurs sollte zeigen: Die ersten vier Anno-Spiele waren – unabhängig von ihrer isoliert betrachteten Qualität – in ihrer prinzipiellen Struktur verdammt ähnlich angelegt. Das war eine vernünftige Entscheidung. Das Anno-Prinzip, heimelige, nostalgische Städte bauen, an herrlich greifbaren Bio-Wirtschaftskreisläufen tüfteln, das funktionierte. Gut, oft sehr gut, teilweise brillant.

Anno 1800 hätte definitiv funktioniert…

Aber: Es nutzt sich doch irgendwann ab. Das heißt nicht, dass ein Anno 1800 langweilig geworden wäre, im Gegenteil. Es lässt sich enorm viel machen mit den technischen Erfindungen des neunzehnten Jahrhunderts. Dennoch ist der kreative Innovationsraum begrenzt, einfach weil wir über eine faktisch vergangene Zeit reden, die authentisch dargestellt wird (also keine Münchhausen-Militäreinheiten, keine fliegenden Holländer…).

Mag der Anno-Freund, und das schließt explizit mich ein, sich auch über die Änderungen im jeweiligen Gebäudearsenal freuen – „Hui, Mostanbau!“ – so bleibt es, blickt man von einer leicht entfernten Perspektive, doch ein limitierter Bereich.

Für Medienberichterstattung mag das sekundär sein. Anno ist im special-interest-Segment als Hausnummer groß genug, um auch so hinreichend Coverage zu erhalten. (Bestenfalls nölen Redakteure über die Schwierigkeiten, wirklich interessante Kästen zu finden.) Im general-interest-Sektor, also Tageszeitungen, Fernsehmagazine etc., ist es thematisch passend (familienfreundlicher Städtebau) und insgesamt selten genug, um ebenfalls nicht unter Monokulturmangelerscheinungen zu leiden. (Für 2070 kommt die starke Ausprägung des ökologischen Faktors als general-interest-Magnet hinzu.)

… doch der große Zeitsprung spricht potenziell neue Spielergruppen an

Aus Entwickler- und Publishersicht jedoch gibt es zwei Aspekte, die dafür sprechen, für „Anno 5“ 369 zu 1701 und nicht 396 zu 1404 zu addieren. [Update:Mathe-Bug korrigiert. Update 2: in der aktuellen Ausgabe des PC-Games-Podcast wird bemerkt, dass zwischen 1404 und 2070 genau 666 Jahre liegen. Anno-2070-Teil zwischen Minute 37 und 46.]

Erstens eine erweiterte Zielgruppe: Das traditionelle historisch angelehnte Anno hat seine Fans im sechs- bis siebenstelligen Bereich.

  • Von denen kaufen ein „traditionelles“ Anno 5 all jene nicht, denen die Neuerungen absolut betrachtet nicht ausreichen. Das kann heißen, dass sie wirklich das vergangene Anno noch spielen. Dass sie Feature-Listen in Fachzeitschriften vergleichen. Oder dass sie beim Stöbern im Mediemarkt das neue Anno entdecken und nach einem Blick sagen, dass es doch ist wie das Alte. Hier nützen auch keine Dampfmaschinen und Fabrikgelände, denn der allgemeine Ersteindruck wäre doch ähnlich.
  • Ebenfalls nicht kaufen werden natürlich all jene, die Anno 1 bis 4 nicht mögen, entweder qualitativ, genrespezifisch oder szenariobedingt. Der Erfolg der Sim-City-Reihe und auch von Industrie- und Transport-Gigant zeigt, dass ein Markt für gegenwarts- bis zukunftsbezogene Strategiespiele existiert, gerade im internationalen Bereich, wo die teutonischen Stadtbausimulationen selbst für den Branchenriesen Ubisoft bisher ein nicht leicht zu platzierendes Produkt waren.

Bei einem Szenariowechsel gibt es also die folgende Rechnung:

  • Ein Teil der Anno-Spieler wird wieder kaufen, weil sie der starken Marke Anno treu sind und sich ein weiteres Qualitätsprodukt aus dem Hause Related erwarten.
  • Ein Teil, der ein traditionelles Anno 5 gekauft hätte, wird abspringen, weil sie dem Szenario abgeneigt sind. [Update: Mick Schnelle benennt das in den Kommentaren zu seinem wenig euphorischen Blogpost Kristallkugel-Mick: „Mit Sciencefiction sind die schon mal alle weiblichen Spielerinnen los und auch die Gelegenheitsspieler“.]
  • Ein (womöglich recht kleiner) Teil, der aus o.g. Gründen ein traditionelles Anno 5 vielleicht nicht gekauft hätte, denkt aufgrund des neuen Szenarios doch drüber nach.
  • Der wichtigste Aspekt: Menschen, die aufgrund des Szenarios („noch mehr Mittelalterkram in Holz- und Steintönen“) zuletzt keine Anno-Käufer waren, werden nun neue Kunden. (Ich wiederhole an dieser Stelle noch einmal: Internationaler Markt – wo das ähnlich situierte Sim City die einzige einigermaßen nachhaltig erfolgreiche Serie darstellt.)

Ubisoft wird in seinen Fokusgruppenstudien die Größe der einzelnen Gruppen gemessen haben und gesehen, dass dies die gewinnträchtigste Kombination ist. Die Kommentare, etwa bei Gamersglobal – natürlich weit entfernt von einer auch nur ansatzweise repräsentativen Marktstudie – zeichnen ein ähnliches Bild.

Zweitens und ein sicherlich außen vor stehendes Kriterium aus Publishersicht: Über Abwechslungsreichtum freut sich jeder Arbeitnehmer. Ich denke nicht, dass Related-Designs-Mitarbeiter in irgendeiner Weise genervt von ihrem Traditions-Anno waren, aber „etwas anderes zu machen“, das aber dennoch eng mit dem zusammen hängt, was man kann, reizt und erhöht die Motivation im Team.

Für Related und Ubisoft also lautet das Zauberwort „Erweiterung“: Der Zielgruppe, der Marke, des Gameplays – auf Basis der bisherigen Werke und Errungenschaften. Dennoch: Auch wenn sie mit Anno 2070 kein völliges, Achtung Spieleredakteursphrase, Neuland erkunden, sondern eben auf Bekanntes und Bewährtes in einem größeren kreativen Raum aufbauen, so ist dennoch ein Risiko dabei.

Ubisoft weiß um den Wert der Marke Anno; ein schlechtes oder nicht akzeptiertes Anno 2070 gerade im deutschsprachigen Raum könnte irreparablen Schaden auslösen. Es gibt viele Beispiele für Neupositionierungen von Serien, die nicht gut ausgingen: Tomb Raider: Angel of Darkness, Command & Conquer 4, Empire Earth 3 oder auch Gothic 4. (Und ja, natürlich sind alle jeweils für sich nicht mit Anno vergleichbar.) Die Gefahr ist auch bei Anno 2070 gegeben, beruht doch ein wesentlicher Part in der heimeligen Nostalgie, welche das Setting optisch und akustisch vermittelt.

Die bisher bekannten Details unterstützen die These, dass das Szenario Freiheiten ermöglicht, die Related Designs anderenfalls nur sehr schwer mit der Historizität der Vorgänger vereinbaren konnte. Dazu gehören die zwei Fraktionen, deren Verschiedenheit nicht ethnisch, sondern spielerisch fundiert ist, ebenso wie die Auswirkungen der Entscheidungen auf Umwelt, Architektur und Bedürfnisstruktur.

Als alter Fan der Caesar-Reihe wäre mein nächster Wunsch übrigens ein Anno 9. Passt auch mit der Quersumme!

 

2 Replies to “Anno 2070: Der sinnvolle Schritt nach vorne”

  1. Alexander sagt:

    Es mag Nostalgie sein, ich zumindest fand bisher den ersten Teil „Anno 1602“ immer noch am besten. Oder es liegt einfach daran, dass Anno 1602 eines der ersten Spiele dieser Art war. Wie dem auch sei, alle weiteren Nachfolger, die ich gespielt habe, konnten mich nicht wirklich überzeugen.

  2. […] Tatsächlich war ich aber überzeugt, dass 1800 ganz sicher der nächste Teil sein wird. Schließlich sprang die Serie vorher wie ein umgekehrtes Näherungsverfahren vor und zurück (1602, 1503, 1701, 1404). Als die Serie dann überraschend in die Zukunft sprang, hielt ich es trotzdem für eine gute Entscheidung. […]