Bürgerschaftswahlen in Hamburg (5) – Analyse: Lagerwanderungen und ein Drittel weniger Piraten

Politik

Ehe wir mit der großen Landtagswahl-Offensive der nächsten Wochen beginnen, ist es Zeit für eine abschließende Betrachtung des Hamburger Wahlergebnisses. Das Resultat weich durchaus merklich von den vorherigen Umfragen ab:

Auf die beiden Spalten rechts komme ich weiter unten zu sprechen. Umfragen wie immer von Wahlrecht.de. Im Einzelnen zu den Parteien:

  • Das phänomenale SPD-Ergebnis liegt zweieinhalb Prozentpunkte über dem besten vor der Wahl gemessenen Wert. Die theoretischen Betrachtungen zur absoluten Mehrheit haben sich damit im Grunde bestätigt – aus 48,4% der Stimmen werden 51,2% der Sitze, was auch ungefähr meiner simplen Divisor-Formel Stimmenanzahl * 100 / (Summe der Ergebnisse aller im Parlament vertretenen Parteien) = 48,4% * 100 / (21,9 +48,4 + 11,2 +6,7 + 6,4) = 100 / 94,6 = 51,2% entspricht.
  • Dazu habe ich auch einmal die nachfolgende Tabelle aufgestellt, welche den reinen aufgerundeten Stimmenanteil und den Sitzanteil vergleicht:

    Die Zahlen sind überwiegend ziemlich ähnlich – der neunte Sitz, den die FDP gegenüber der Linken erhalten hat, macht die Liberalen zum Gewinner des Divisorverfahrens.
  • Ein Gewinn um 14,1 Prozentpunkte für die Sozialdemokraten – einen solchen Erfolg konnte die SPD zuletzt 1994 in Brandenburg verbuchen; auch parteiübergreifend ist der Zugewinn ziemlich spektakulär, da sich Abstürze anderer Parteien sonst meist stärker verteilen (siehe nächster Absatz).
  • Nur zwei Umfragen – beide Anfang Dezember 2010 – sahen die CDU bei 22%, das Ergebnis, was sie letztlich erreichen sollte. Insgesamt wurde sie, wie auch schon kürzlich in Nordrhein-Westfalen, überschätzt. Der Absturz von 42,6% bei der Bürgerschaftswahl 2008 auf 21,9% entspricht einem Malus von 20,7 Prozentpunkten. Man muss durchaus ein wenig in der Geschichte deutscher Wahlen zurückgehen, um ähnliche Abstürze zu finden – selbst das 2001er-Debakel in Berlin nach dem Bankenskandal (-17) oder der Verlust der absoluten Mehrheit in Bayern für die CSU 2008 (17,3) nehmen sich vergleichsweise bescheiden aus; der Absturz der Union ist nach meinen Recherchen der größte Verlust einer Partei (die auch wiederantritt) bei Landtagswahlen seit 1950 (Bayern, CSU).
  • Die FDP hingegen konnte die Umfragen überfliegen und landete deutlich in der Bürgerschaft – um die sieben Hundertstel Zustimmung waren ihr zuletzt im April 2010 attestiert worden. (Disclaimer: Ich war einmal FDP-Mitglied.)
  • Umgekehrt gelang es der GAL nicht im erwarteten Umfang, an Zustimmung zu gewinnen. (Disclaimer: Ich bin Mitglied der Grünen.)
  • In diesem Zusammenhang – SPD und FDP über der Prognose, CDU und GAL darunter ist es interessant, sich die Entwicklungen lagerübergreifend anzusehen, zumal gerade der Bruch einer lagerübergreifenden Koalition zu den Neuwahlen geführt hatte, also entsprechende Auflösungsthesen eher widerlegt. Und tatsächlich: Summiert man Schwarzgelb und Rotgrün für die letzten Umfragen, ergeben sich jeweils Ergebniskorridore von 28-30% respektive 58-61%, in die auch jeweils das Ergebnis fällt.
    Heißt: Im Vergleich zu den Umfragen fand eine Last-Minute-Wanderung innerhalb des Lagers, also zur FDP respektive SPD statt. Dies kann wie immer an den Korrekturmechanismen der Institute liegen, aber natürlich auch sachliche Hintergründe haben. So könnten ein paar Mitte-Rechts-Wähler taktisch FDP gewählt haben, um ihr den Einzug zu sichern und damit die Chance auf eine absolute SPD-Mehrheit zu verringern. Oder sie liehen den Liberalen ihre Stimme, weil sie mit Ahlhaus‘ Villa die rote Linie überschritten sahen oder die FDP bezüglich der Bildungspolitik als glaubwürdiger ansahen. (Und theoretisch: Die Causa Guttenberg begann gerade.) GAL-Wähler könnten doch zur SPD umgeschwungen sein, weil sie mit dem vermeintlichen Kalkül der Partei, die Umfragengunst der Stunde zu nutzen, nicht einverstanden waren, oder weil die Wirtschaft, die Olaf Scholz in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs gestellt hatte, zentral für ihre Entscheidung war.
  • Die Linken haben es nach Hessen nun schon zum zweiten Mal geschafft, in einem alten Bundesland ins Landesparlament wiedereinzuziehen, wenn auch eher unspektakulär.
  • Die Piraten haben mit über 2% der Stimmen erneut den Platz der stärksten „sonstigen“ Partei errungen. Allerdings: Absolut betrachtet sieht es weniger gut aus: 23168 Stimmen erhielt die Partei bei der Bundestagswahl in Hamburg – mit 2,6% ein respektables Ergebnis. Diese Zahl mit dem Ergebnis der letzten Wahl zu vergleichen, ist aufgrund des geänderten Wahlrechtes nicht ganz trivial. Kurze Zusammenfassung: Fünf Stimmen für die Landesliste, fünf Stimmen für die Wahlkreise, wobei die Piraten nicht in allen Wahlkreisen über Listen verfügten, also hamburgweit nur das Landeslistenergebnis vergleichbar ist. Hier erzielt die Gruppe 73126 Gesamtstimmen, was bei fünf Stimmen je Wähler 14625 natürlichen Personen entspricht, die ihre Stimme komplett den Piraten geliehen haben. Gegenüber dem Bundestagswahlergebnis ist das eine Abnahme um über 8500 Stimmen oder mehr als ein Drittel. Zeichen des Aufbruchs sehen anders aus.
  • Und wo wir gerade beim Wahlrecht waren: 3% (Landesliste) respektive 3,6% der abgegebenen Papiere waren ungültig – bei der Bundestagswahl waren es lediglich 1,4%.

Und damit hinein in die nächsten drei Landtagswahlen…

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