Bundesvollversammlung 2010, Wulff und Gauck: Weitere Betrachtungen

Politik

Update: Dieser beitrag basierte noch auf der Prognose zur Zusammensetzung, nicht auf der endültigen Bundesversammlung. An den Thesen (Mehrheit weder für Rot-rot-grün noch für Ampel) ändern die Verschiebungen dabei aber nichts.

Wenn Bild am Sonntag, Welt, Spiegel und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung den von SPD und Grünen aufgestellten Joachim Gauck für den besseren Kandidaten halten, deutet dass auf einen (seltenen) guten Coup hin. Umfragen und auch der individuelle Lackmus-Test in der Twittersphäre zeigen (trotz Bedenken) eine erheblich größere Sympathie für den ehemaligen BStU. Jedoch, gewählt wird der Bundespräsident eben immer noch in der Bundesversammlung – nach der letzten Betrachtung, auch wenn diese noch mit einigen Unschärfen versehen war, ist die schwarz-gelbe Mehrheit hier satt, mit Freien Wählern zusammen erst recht.

Allerdings: Derzeit gärt es auch in einigen CDU- und FDP-Verbänden, auf regionaler und nicht zuletzt auf individueller Ebene sind daher viele „Überläufer“ ins Gauck‘sche Lager möglich. Stehen die Chancen für den Oppositionskandidaten also doch gut?

Nein, nicht wenn man den Filter der momentgetriebenen Berichterstattung und deren Einfluss auf die eigene Wahrnehmung ablegt. Das liegt an mehreren Aspekten:

Die Nominierung Gaucks ist prozess- wie personenbedingt nicht dazu geeignet, die Linkspartei mit ins Boot zu holen, zumindest nicht im ersten Wahlgang (erst im dritten gilt die einfache Mehrheit). Alleine ist das rot-grüne Lager aber wirklich klein (siehe Vergleichsgrafik unten), so dass es enorm vieler „Abweichler“ benötigen würde. Selbst eine komplett Gauck wählende FDP, also eine Vollversammlungsampel, würde nicht ausreichen. Hinzu kommt, dass die Koalitionäre wissen, wie dramatisch ein Scheitern wäre.

Infografik zur Bundesvollversammlung

Die Bundesvollversammlung, geordnet nach politischen Lagern, tatsächlich wie theoretisch. Die magische 622er-Linie durchquert lediglich die Allianz der gegenwärtigen Regierungsparteien (ob mit oder ohne Freien Wählern).

Ich habe das Problem mal in einigen Grafiken visualisiert. Das folgende Diagramm zeigt, wie viele Stimmen Gauck zur absoluten Mehrheit, also 622 Sitze, fehlen, je nachdem, wie hoch der prozentuale Anteil an für ihn Stimmenden in den anderen Gruppierungen ist. Deutlich: Selbst bei 100% Zustimmung auf FDP oder(!) Linke reicht es nicht aus. Um die erforderliche Mehrheit zu schaffen, müssten etwa 60% aller Abgeordneten aus FDP und Linkspartei für Gauck stimmen, oder rund jeder Fünfte(!) außerhalb des rot-grünen Lagers.

Infografik zur Bundesvollversammlung

Dieses Diagramm zeigt, wie hoch der Anteil an Gauck-Zustimmern in den jeweiligern Lagern sein muss, um den Nullpunkt (=eine absolute Mehrheit für Gauck) zu erreichen. Dabei auch deutlich: Es reicht nicht, wenn nur die FDP oder nur die Linke für den ehemaligen BStU stimmt.

Das nachfolgende Diagramm zeigt die jeweiligen Abhängigkeiten etwas genauer. Auf der x-Achse ersichtlich ist der prozentuale Anteil an Mitgliedern der Linkspartei in der Vollversammlung, die für Gauck stimmen, und die beiden Graphen zeigen, wie hoch der Anteil an „Überläufern“ entweder nur der FDP oder des gesamten Mitte-Rechts-Lagers sein muss, um auf 622 Stimmen, also die absolute Mehrheit, zu gelangen. Lesebeispiel: Wählen 40% der Linkspartei-Delegierten Gauck, benötigt er 85% der FDP-Stimmen für die Mehrheit oder ca. 18% der Stimmen von Union, FDP und Freien Wählern zusammen. Das alles natürlich unter der Voraussetzung, dass alle rot-grünen Delegierten ihm ihr Votum geben.

Bundesvollversammlung: Korrelation Linke-FDP-Gauck-Mehrheit

Dieses Diagramm verdeutlicht (neben meiner persönlichen Obsession für Abhängigkeiten und ihre Darstellung), wie hoch der prozentuale Anteil an Zustimmern entweder nur in der FDP, oder im gesamten Mitte-Rechts-Lager für die magische 622-Stimmen-Grenze sein müsste.

Das letzte Diagramm zeigt, ab welchen „Überläufer“-Zahlen es tatsächlich kritisch für Wulff und damit Merkel wird. Das Diagramm geht erst einmal nicht von Linkspartei-Gauck-Wählern aus (damit schöbe sich der blaue Graph weiter nach oben), dafür aber davon, dass die Freien Wähler erst einmal im Wulff-Bereich sind (ich habe auf ihrer Seite keine Informationen finden können). Bei 33 „Bürgerlichen“, die Wulff ihre Unterstützung verweigern, muss der Niedersachse in weitere Wahlgänge. Im dritten, wo die relative Mehrheit ausreicht, könnte ihm Gauck ab einer Unterstützer-Verschiebung von knapp 100 die Präsidentschaft streitig machen.

Bundesvollversammlung: Korrelation Linke-FDP-Gauck-Mehrheit

In Ermangelung einer 3D-Plotting-Möglichkeit: So verlaufen die Stimmenzahlen in Abhängigkeit von Mitte-Rechts-Lager-Delegierten, die für Joachim Gauck und nicht für Christian Wulff stimmen.

Die Süddeutsche Zeitung hat heute morgen gemutmaßt, das wäre das Ende der Kanzlerschaft Merkel – und angeführt, dass Union und FDP im Bundestag bei wichtigen zurückliegenden Entscheidungen ca. 3% Abgeordnete haben, die nicht in ihrem Sinne stimmen (ein knappes Dutzend Stimmen fehlten Merkel aus den eigenen Reihen bei der Kanzlerwahl). Allerdings: 97% schwarz-gelbe Unterstützer reichen um eine Handvoll Stimmen aus.

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